Kürzlich war Indiens Präsident Narendra Modi auf Staatsbesuch in Washington. Mit viel Pomp wurde er dort von US-Präsident Joe Biden empfangen und hofiert. Es gilt das Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Weil Indien mit China im Clinch liegt und die USA mit China, ist folglich für die USA klar: Indien ist unser Freund. Oder in den Worten Bidens: „Zwei große Nationen, zwei große Freunde, zwei große Mächte.“ Und es sind nicht nur die USA, die Indien als Partner umgarnen. Auch Europa und Deutschland tun dies. Ursula von der Leyen, Olaf Scholz und Annalena Baerbock – sie alle reisten in den vergangenen Monaten nach Indien, das gerne als größte Demokratie der Welt gepriesen wird. Damit soll eine Wertepartnerschaft suggeriert werden. Dass diese indische Demokratie gewaltige Defizite hat, dass Modi einen Hindu-Nationalismus predigt, dass die Pressefreiheit eingeschränkt ist, dass viele Frauen nach wie vor unterdrückt werden – über all das wird großzügig hinweggesehen oder es wird nur pflichtschuldig am Rande erwähnt. Nein, hier geht es nicht um Werte, sondern um knallharte Macht- und Interessenpolitik. Indien soll als mächtiger asiatischer Gegenpol zum ungeliebten, weil autoritären und wirklich mächtigen China aufgebaut werden. Aber diese Rolle wird Indien nicht spielen. Seit den Zeiten Gandhis und Nehrus fährt das stolze Indien einen selbstbewussten und eigenwilligen Kurs, den es sich nicht von außen diktieren lässt – weder von Biden noch von irgendwelchen Europäern.
Wolfgang Hirn