Am 9. November 2007 verließ ein Deutscher mit einem Rucksack sein Apartment in Beijing und begab sich auf eine abenteuerliche Reise, die bis heute noch nicht beendet ist. Der Mann heißt Christoph Rehage. An jenem Tag – es war übrigens sein 26. Geburtstag – ging er einfach aus dem Haus, schloss die Tür, winkte seinen Nachbarn zu und machte sich auf den Weg, auf einen sehr langen Weg – 15 000 Kilometer nach Bad Nenndorf, seiner Heimatstadt.
Doch er kam zunächst „nur“ bis Urumqi in Xinjiang. Nach 4646 Kilometern und fast einem Jahr brach er ab. Die Freundin im fernen Deutschland wollte nicht mehr länger warten und gab ihm den Laufpass. Er ging zurück und sagte sich: „Das Projekt ist gestorben.“
Er setzte sein Studium fort. Durch dieses war er überhaupt zu China gekommen. Er wollte nämlich an der LMU München ein Studium von Politik und Geschichte beginnen. Doch dazu brauchte er ein drittes Fach. Er wollte Japanisch nehmen, weil er einen japanischen Kumpel hatte. Als er jedoch den Zettel in der Hand hatte, auf dem man sein Drittfach ankreuzen sollte, sah er, dass auch Chinesisch möglich war. Er sagte sich: Wenn ich Chinesisch kann, kann ich mich mit einem Fünftel der Menschheit unterhalten – und er wählte Chinesisch. Nach dem Grundstudium war ein Auslandaufenthalt in China vorgeschrieben. Drei Unis in China konnte er ankreuzen, natürlich die Elite-Unis Beida und Fudan, aber auch etwas neben der Spur die Filmhochschule. Und er bekam Letztere. Ein Jahr paukte er dort Chinesisch und hing noch ein Jahr dran, um das Filmen mit der Kamera zu lernen. Und während dieser Zeit reifte die Idee, nach Hause zu laufen. Schließlich hatte er das schon mal gemacht. Er hatte vor dem Studium in Paris gejobbt und ist dann von dort zu Fuß nach Bad Nenndorf gelaufen. Das waren nur drei Wochen.
Aber nun sind es 15 000 Kilometer – das war eine andere Nummer. In der Wüste Gobi sattelte er um – vom Rucksack auf einen Wagen. Den ließ er in einer Werkstatt bauen. Fortan zog er seine notwendigen Utensilien auf diesem Wagen hinterher. Auf diese Idee brachte ihn ein Wanderer, den er unterwegs getroffen hatte. So schaffte er es immerhin bis Urumqi. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland vollendete er sein Studium (inzwischen war die Sinologie das Hauptfach) und schrieb Bücher („The Longest Way“ und „Neuschweinstein“). Doch die Idee der langen Wanderung von China nach Deutschland ließ ihn nicht los. Zweimal – jeweils im Sommer 2010 und 2012 – reiste er nochmals nach China, um in zwei großen Etappen von Urumqi an die chinesisch—kasachische Grenze zu wandern. Dort verstaute er seinen Wagen in einer Fabrik, um ihn im Juli 2016 wieder rauszuholen. Denn er hatte entschieden: „Ich muss das jetzt beenden.“
So marschierte er wieder los – durch Zentralasien, den Iran, Georgien, die Türkei, den Balkan. Derzeit ist er in Österreich. In Linz treffe ich ihn per Zoom und stelle viele Fragen. Eine wichtige gleich vorweg: „Sind Sie willensstark?“ Er antwortet: „Nein, aber ich bin stur.“ Und dann erzählt er eine Episode. Irgendwo in der Wüste Gobi hält ein Transporter neben ihm und fragt, ob er mitfahren will. Er verneint: „Ich kann nicht, ich habe mir vorgenommen, jeden Meter zu laufen.“ Der Fahrer: Es sieht doch keiner. Er: „Aber ich sehe es.“ Der Fahrer fuhr weiter. „Er dachte wohl, ich bin bescheuert.“ Weitere Frage: Wie motiviert man sich, jeden Tag loszumarschieren? Rehage: „Man muss sich Zwischenziele setzen – große und kleine.“ Große wie ein See in Xinjiang, Samarkand in Usbekistan oder Istanbul. Und viele kleine dazwischen: die nächste Lichtung, die nächste Anhöhe, der nächste Baum. 25-30 Kilometer waren sein Tagespensum – bis er in Georgiens Hauptstadt Tiflis landete. Dort ereilte ihn die Corona-Pandemie und die Diagnose Multiple Sklerose. Er fliegt nach Deutschland, lässt sich behandeln. Das Projekt stand auf der Kippe. Er legte die Entscheidung in die Hände seiner Neurologin: „Ich werde auf Ihren Rat hören“. Sie sagte: „Machen Sie auf jeden Fall weiter.“ Und er machte weiter. Anfangs schaffte er nur zehn Kilometer am Tag. „Jetzt bin ich bei 15-20 Kilometer pro Tag“, sagt er. Inzwischen hat er auch Probleme mit der Bandscheibe. Ein halbes Jahr hing er deshalb in Budapest fest. Wie hält man angesichts solcher Nackenschläge durch? Seit 2019 macht er eine Online-Therapie. „Das hat mir sehr geholfen“. Letzte Frage: Wie finanziert man einen solchen Gewaltmarsch? Er hat zwei Kanäle auf Youtube – einen in Englisch (202 000 Abonnenten) und einen in Chinesisch (165 000 Abonnenten). Die bringen Werbeeinnahmen. Und er lebt spartanisch, zeltet im Freien, gönnt sich alle paar Tage mal ein günstiges Hotel.
In rund zwei Wochen will er die Grenze zu Deutschland überqueren. Wann er in Bad Nenndorf ankommen wird, ist nicht terminiert, ebenso wenig ist das Procedere der Ankunft bekannt. Er hätte es gerne unspektakulär: „Ich bin damals in Beijing heimlich losgelaufen. So möchte ich auch zuhause ankommen.“ So malt er sich seine ideale Rückkehr aus: „Ich ziehe den Wagen durch Bad Nenndorf, komme zum Bäcker, kaufe ein Brot, klingele zuhause, mein Vater macht auf und fragt: Hast du das Brot mit?“
Ich könnte wetten, dass es nicht so ablaufen wird – und werde darüber berichten.
Info:
Auf dieser Webseite kann man Christoph Rehage auf seiner Reise verfolgen:
Und hier sein Youtube-Kanal in Englisch: https://www.youtube.com/watch?v=Uo1iLhq1vi8 und hier in Chinesisch: https://www.youtube.com/@laolei/videos