GESELLSCHAFT I Von Fördern, Fordern und verordneter Erholung – Chinas Schulen im Wandel / Von Imke Vidal

Chinas Schulsystem ist geprägt von Konkurrenz- und Leistungsdruck. Eine schwere Bürde für Kinder und Familien, die sich oft bereits im Grundschulalter bemerkbar macht. Zwar gibt es heute in China kaum Analphabeten, und der Anteil der Schulabgänger, die ein Studium aufnehmen, ist rasant gestiegen. Doch trotz dieser Erfolge gibt es Verlierer im chinesischen System. 2021 hat die Zentralregierung darum das „Gesetz zur Förderung der Familienerziehung“ auf den Weg gebracht, um Schülern den Druck zu nehmen. Weniger Hausaufgaben, mehr Zeit für Ruhe und Erholung sowie für ausreichend Bewegung, darauf zielt das Gesetz ab. Kaum vorstellbar, dass sich diese Dinge durch Gesetze erreichen lassen. Wer die Schwächen des Gesetzes aber vorschnell kritisiert, darf die Symbolik dahinter nicht unterschätzen. Das Gesetz zeugt von einem neuen Problembewusstsein – vor allem auf Regierungsebene. Es erkennt offiziell an, dass Handlungsbedarf besteht. Das ist bei aller Problematik des Gesetzes ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Schulen sind nicht gerade Oasen der Entspannung. Erst recht nicht in der Volksrepublik. Seit langem schon genießt China den zweifelhaften Ruf, über ein ebenso erfolgreiches wie unerbittliches Schulsystem zu verfügen. Tatsächlich gelang China unglaubliches: eine nahezu flächendeckende Schulausbildung für alle. Ob reich oder arm, Mädchen oder Junge, ob Kind von Landarbeitern oder Intellektuellen, ob Han-Chinese oder Minderheit, eine Grundausbildung erfährt in China jedes Kind. Mindestens neun Jahre gehen chinesische Kinder verpflichtend zur Schule. Die Ausbildung, die sie in diesen neun Jahren erhalten, mag an städtischen Eliteschulen besser sein als an einfachen Dorfschulen. Doch selbst im entlegensten chinesischen Bergflecken ist diese Grundausbildung vorzeigbar. Damit stellt das chinesische Schulsystem erstaunliche Gerechtigkeit her. Die Analphabeten-Quote ist in China heute sehr niedrig. Im internationalen Vergleich fallen chinesische Schüler als besonders erfolgreich auf. Nahmen Anfang der 90er Jahre nur 3,5 Prozent der chinesischen Schulabgänger ein Studium auf, waren es 2019 bereits 51,3 Prozent Das alles spricht für den Erfolg der chinesischen Schulen.

Der Erfolg hat aber seinen Preis. Schüler in China sind in der Regel gestresst. Schon in der Grundschule macht sich das bemerkbar. „Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung leiden chinesische Schüler immer häufiger unter Kurzsichtigkeit, Schlafmangel und schlechter Fitness, was vielen Sorgen bereitet“, berichten staatsnahe Medien[1]. Und nennen dabei die wohl geringsten Probleme. In seiner drastischsten Form nämlich löst der schulische Dauerstress Depressionen aus und führt schlimmstenfalls zu Verzweiflungstaten wie Selbstmord.

Längst ist es zur Unsitte geworden, dass der schulische Stress in China auch nach dem Schulunterricht nicht endet. Aufgrund des enormen Konkurrenzdrucks, der auf den Kindern und ihren Familien lastet, ist es gang und gäbe, dass abends und an den Wochenenden allerhand außerschulische Förderung stattfindet. Hausaufgabenhilfe, Extraunterricht in Mathe oder Englisch, Sport, Musik oder Kunst. Es wird gefördert, was das Zeug hält. Niemand kann es sich leisten, in China Talent zu verschwenden. Zu schnell ist man in der Masse der 1,4 Milliarden abgehängt. „Höher, weiter, schneller“ lautete schon 2008 der Slogan der Olympischen Spiele in Peking. Mit ähnlicher Einstellung entwickelt sich der schulische Leistungsdruck in China. Wollen tut das eigentlich niemand. Nicht die Lehrer, nicht die Eltern und am allerwenigsten die Kinder. Auch die Regierung hat wohl kein Interesse, eine ganze Generation von überarbeiteten Schülern zu produzieren, von denen niemand sagen kann, ob oder wie lange sie dem Druck noch standhalten. Das Ziel sollte es schließlich sein, am Ende der Schulzeit eine arbeits- und leistungsfähige Jugend auf den Arbeitsmarkt oder ins Studium zu entlassen. Und natürlich gibt es die in China: die motivierten, leistungsfähigen jungen Menschen. Viele aber zahlen einen hohen Preis. Sie setzten ihre mentale Gesundheit aufs Spiel, um Schritt zu halten.

Das erkennt nun auch die Regierung und versucht, zum Wohle der Kinder Druck und Stress in den Schulen abzubauen. Ein überfälliger Schritt, der aber nicht unproblematisch ist.

Eine erste Reform brachte der Nationale Volkskongress 2021 auf den Weg gebracht. Mit dem „Gesetz zur Förderung der Familienerziehung“ sollen einige der zur Sitte gewordenen Belastungen vermieden werden. Wie so häufig in China delegiert der Volkskongress die Verantwortung an die Kommunen und Landkreise. Diese haben nun lokal dafür Sorge zu tragen, dass die Hausaufgabenlast in den Schulen verringert wird. Ziel des Gesetzes ist es, dass ein Bedarf an außerschulischer Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe gar nicht erst entsteht. Eltern (oder andere Sorgeberechtigte) werden von dem Gesetz ebenfalls in die Pflicht genommen. Sie sollen dafür sorgen, dass die Kinder nach „angemessener Lernzeit“ auch ausreichend Zeit für „Ruhe“ und „Erholung“ finden und sich im Ausgleich dann auch noch angemessen „körperlich betätigen“. Es ist ebenfalls Aufgabe der Eltern, die „Internetabhängigkeit“ bei den Kindern zu verhindern. Ein verbreitetes Problem. Auch hierfür gibt es ein Internetgesetz und diverse Mechanismen, mit denen der Staat die Internetnutzung Minderjähriger kontrolliert und reguliert.

Auch das Familienerziehungsgesetz setzt auf eine Form der Überwachung, wie sie dem europäischen Freiheitsdenken grundliegend widerspricht. Eltern, deren Kinder den Schulstress nicht ertragen, könnten dafür in Zukunft zur Verantwortung gezogen werden und in Chinas ausgeklüngelten System der Sozialkredite Punkte verlieren. Das neue Gesetz ist eben kein Bildungsgesetz, es geht um Erziehung. In der Praxis, so steht zu befürchten, wird damit der Druck von den Kindern auf die Eltern verlagert. Sie nämlich sind nun weiterhin für die optimale Förderung des eigenen Kindes zuständig. Zudem aber fällt ihnen jetzt auch noch die Aufgabe zu, für „Ruhe“ und „Entspannung“ zu sorgen. Insbesondere wenn dem Kind das Lernen schwerfällt, ist das keine leichte Aufgabe. Und ob sich „Ruhe“ und „Entspannung“ überhaupt gesetzlich oder von den Eltern verordnen lassen, ist nur eine von vielen spannenden Fragen, die sich hier ergeben.

Denn es ist sicherlich auch zu einfach, das Gesetz zu verteufeln. Der Ansatz ist im Kern berechtigt: Die Erkenntnis, dass die Kinder mehr Schutz brauchen, und dass der Stress, dem Kinder in China ausgesetzt sind, ein ernsthaftes Problem darstellt. Richtig ist auch, dass der Staat die Initiative ergreifen muss. Es gilt, ein etabliertes System zu durchbrechen. Für den einzelnen ist das Risiko nicht kalkulierbar, sich in dem bestehenden System individuell dem Leistungsdruck zu entziehen. Die Folgen sind schwer berechenbar, wenn eine Familie für sich entscheidet, das eigene Kind nicht außerschulisch zu fördern. Wenn niemand sonst das tut, ist das eigene Kind schnell abgehängt. Dann sind es wieder das Kind und die Familie, die darunter leiden.

China hat also erkannt, dass es so nicht weitergeht, und die Kommunistische Partei hat eine Art gesetzliche Notbremse gezogen. Kollateralschäden sind da nicht ausgeschlossen, aber Gründe für vorsichtigen Optimismus gibt es auch. Unlängst führte beispielsweise das chinesische Bildungsministerium eine Reihe neuer Studiengänge ein. Darunter ein Studiengang „Familienbildung“ (家庭教育) sowie ein Studiengang „Bildung für autistische Kinder“ (孤独症儿童教育). Letzterer ist laut staatlicher Nachrichtenagentur Xinhua der Studiengang, an dem die meisten Internetnutzer Interesse signalisierten. „Möchte ich studieren“ und „sehr wichtig“ waren hier die häufigsten Reaktionen im Internet. Ein gutes Zeichen! Insbesondere der Fokus auf autistische Kinder kann als Hinweis gewertet werden, dass es künftig mehr um die Interessen der Kinder gehen wird. Kind ist nicht gleich Kind. Auch in China können nicht an alle Kinder dieselben Anforderungen gestellt werden. Zweifelsfrei gibt es weitere Gruppen von Kindern mit besonderen Förderbedürfnissen, die bisher in China kaum beachtet werden. Der neue Studiengang aber zeigt, dass man sich zumindest Gedanken um die Förderung autistischer Kinder macht. Und die Reaktion der Internetgemeinschaft zeigt, dass die Zivilgesellschaft dieses Anliegen teilt. Bis autistische Kinder konkret davon profitieren, wird es wohl noch dauern. Wenn sich dort aber Erfolge zeigen, wäre ein Grundstein gelegt. Langfristig kann dann hoffentlich auch anderen Kindern mit besonderen Bedürfnissen besser geholfen werden. In einem System, in dem es bisher fast nur um Leistung ging und die Schwächen des Einzelnen tendenziell ignoriert wurden, wäre das ein großer Schritt. 

Info:

Mehr über das Gesetz zur Förderung der Familienerziehung hier: http://german.china.org.cn/txt/2021-10/25/content_77830574.htm


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