Es sind sehr unterschiedliche und auch irritierende Bilder und Stimmen, die einen aus China erreichen. Da sind zunehmend Fotos und Videos von Menschenmengen in den großen Städten zu sehen. Ob an Shanghais Bund, in Beijings Sanlitun, Dalians historischer Tianjin Straße oder auf Chongqings Jiefangbei Square – überall tummelten sich am Silvesterabend zehntausende Menschen dicht an dicht. Es zirkulieren Videos von sich wieder füllenden Fußgängerzonen in den Metropolen. Die Restaurants dort melden für die bevorstehenden Feiertage zu Chinesisch Neujahr (21. Januar) ausgebuchte Lokale. Business as usual also. Aber auf dem Lande sieht es anders aus. Vor allem von dort kommen die Horrormeldungen aus überfüllten Krankenhäusern, Berichte von überlasteten Ärzten und Krankenschwestern sowie fehlenden Medikamenten. Besitzer von Autos werden aufgefordert, Kranke zu transportieren, da die Krankenwagen nicht mehr ausreichen. Business as unusual also.
Wie passen diesen beiden Bilder zusammen? Die Covid-Welle, die China nach dem abrupten Ende der Null-Covid-Politik Mitte Dezember erfasste, fegt in zeitlichen und räumlichen Abständen über das riesige Land. Zuerst erwischte es die Großstädte. Dort schnellten binnen kurzer Zeit sowohl die Zahlen der Infizierten als auch der Toten nach oben. Viele dieser Metropolen haben inzwischen den Peak erreicht. Forscher des Ruijin Hospitals und der Jiaotong Universität in Shanghai gehen davon aus, dass in Städten wie Guangzhou, Beijing, Shanghai und Chongqing der Höhepunkt schon vor Jahresende 2022 angekommen war. Aber nach den Städten ereilt die Welle nun das Land: „The peak in infection and severe disease is yet to hit rural areas, and a big problem awaits down the road”, sagte Chen Xi, Professor an der Yale University gegenüber Bloomberg. Verstärkt wird diese Welle durch den Besucherstrom, der sich angesichts der bevorstehenden Feiertage in den kommenden Tagen von den Städten in die Provinzen bewegen wird. Es wird also garantiert in den kommenden Wochen zu vielen Infektionen und auch Toten kommen. Wie viele, weiß man nicht. Seit dem 21. Dezember veröffentlicht die National Health Commission (NHC) keine Zahlen mehr: „From now on, we will not release the daily pandemic information“, hieß es lapidar. Zudem wurde neu und sehr eng definiert, wer als Covid-Toter gilt. Offiziell kursieren derzeit Zahlen von Covid-Toten im einstelligen Bereich pro Tag. Jeder in China weiß, dass das Quatsch ist. Jeder in China kennt allein in seinem Bekanntenkreis so viele Tote wie die Behörden für ganz China ausgeben. Weil die Behörden mauern, ist man auf westliche Prognosen angewiesen. Häufig wird das Londoner Gesundheitsportal Airfinity zitiert. Dort spricht man von täglich 9000 Toten. Bis Ende April 2023, vielleicht dem Scheitelpunkt der Welle, wird mit 1,7 Millionen Toten gerechnet. Jetzt muss ich einen relativierenden, wenn auch makabren Vergleich einschieben: In Deutschland gab es 160 000 Corona-Tote. Das sind 0,2 Prozent der Bevölkerung; in China wären das vergleichbar 2,8 Millionen Tote, also noch einiges über den prognostizierten 1,7 Millionen. Ich weiß, das sind makabre, aber notwendige Rechenspiele, weil die Bewältigung der Covid-Krise ja von beiden Seiten zum Systemwettbewerb hochgejazzt wurde.
Unterdessen gehen in China, aber auch im Ausland die Diskussionen über Ursachen und Folgen des abrupten Kurswechsels in der chinesischen Pandemie-Politik weiter. Alfred Wu (National University of Singapore) sagte gegenüber der „South China Morning Post“: „Winter was not the best time for reopening”, weil in dieser Jahreszeit besonders viele Viren unterwegs seien. Auch viele chinesische Virologen teilen diese Einschätzung. Warum Chinas Führung es trotzdem getan hat? Man kann nur rätseln. Gängigste Erklärung: Es ist ein Mix aus Gründen. Da sind zum einen die wirtschaftlichen Aspekte. Die permanenten Produktionsausfälle angesichts der vielen Lockdowns haben die Wirtschaft massiv geschädigt. Dazu kommt der politische Druck. Einerseits muckte die Bevölkerung auf. Siehe die Proteste Ende November/Anfang Dezember. Aber auch die Kommunen und Provinzen meldeten sich kritisch zu Wort, denn sie mussten Milliarden für Test- und Quarantänezentren ausgeben, wodurch ihre ohnehin schon hohen Schulden noch weiter stiegen. Langsam kommt auch – zumindest im Westen – eine Diskussion darüber auf, welche Folgen diese 180-Grad-Wende in der Corona-Politik für Chinas Führung haben könnte. Im Westen wird hämisch bemerkt, dass Chinas Regierung doch nicht so allwissend ist und so rational handelt, wie ihr häufig unterstellt wird. Wird diese Diskussion bei zunehmenden Todeszahlen auch in China kommen? Wir werden sehen. Eines ist sicher: Das Thema Covid und seine Folgen wird auch in den nächsten Ausgaben dieses Newsletters ein Thema sein.