Raten Sie mal, wie vieler Wörter es bedarf, um „Gendern“ ins Chinesische zu übersetzen? „Baohan Yin-Yang-Xing de Shuxie Fangshi“, wörtlich: „Methode des Schreibens, die Yin und Yang Eigenschaften beinhaltet“, so kompliziert und doch so philosophisch übersetzt sich „Gendern“ ins Chinesische. Die Bedeutung des Begriffs erschließt sich auf Anhieb wohl nur denjenigen Chinesen, die Fremdsprachen sprechen. Für die meisten ist der Begriff „Fachchinesisch“. Aber er zeigt, es geht im Chinesischen weniger um Geschlechter im biologischen Sinne als um die Einflüsse von Yin und Yang, dem berühmten Paar der Gegensätze und Ergänzungen aus der chinesischen Philosophie. Und dabei geht es ja immer um Wechselwirkung und Balance. Das aber trifft es gut. Denn Gendern ist letztlich ein linguistischer Balance-Akt.
Nun könnte man durchaus annehmen, eine Sprache wie die Chinesische sei auf derartige moderne gesellschaftliche Entwicklungen besonders schlecht vorbereitet. Wie flexibel ist eine Sprache, deren Schrift auf eine über 3000-jährige Entstehungsgeschichte zurückgeht? Die sich in frühester bekannter Form noch aus den zufälligen Rissen in Schildkrötenpanzern oder mit Hilfe von Orakelknochen aus rituellen Handlungen entwickelte? Wie anpassungsfähig ist eine Schrift, die bis heute zeichenbasiert geblieben ist? Immerhin stammen die ältesten bekannten Schriftzeichenfunde aus der Zeit um 1400 v.Chr., also noch aus der Shang-Dynastie. Die damals auf Knochen oder Bronzen verewigten Zeichen haben sich zwar im Laufe der Zeit teilweise weiterentwickelt, waren aber bis in die heutige Zeit ohne Unterbrechung in Gebrauch. Die chinesische Schrift ist damit eine der ältesten ungebrochenen Schrifttraditionen der Welt. Aber kann man mit ihr auch gendern?
Und ob! Überspitzt könnte man sagen, gendern hat man in China gar nicht nötig. Oder anders gesagt: das macht man dort doch schon immer.
Dass es im Chinesischen keine Artikel gibt, vereinfacht bereits einiges. Damit sind Worte im Chinesischen grammatikalisch geschlechtslos. Die Sonne ist nicht qua Artikel weiblich, sondern einfach nur Sonne, der Mond ist grammatikalisch nicht männlich, sondern einfach nur Mond. Auch von „Studenten und Studentinnen“ muss in China niemand reden. Das chinesische „xuesheng“ (bestehend aus den Zeichen xue = lernen und sheng = geboren) ist ebenfalls geschlechtslos. Für den Plural wird der Suffix „-men“ angehängt. So wird aus xuesheng (dem Studenten/der Studentin) „Xueshengmen“, also „die Studierenden“. Nichts deutet auf das Geschlechterverhältnis innerhalb der Gruppe hin.
Auf das Geschlecht muss im Chinesischen bei Bedarf gesondert verwiesen werden. So bedeutet „haize“ so viel wie Kind. Zum „Jungen“ oder „Mädchen“ wird das Wort erst durch Voranstellen der Zeichen „nü“ für Frau oder „nan“ für Mann. „Nühaize“ oder „nanhaize“ sind also weibliche und männliche Kinder, sprich Jungen und Mädchen. Das wird nur präzisiert, wenn explizit die einen oder die anderen gemeint sind. Und meist nur, wenn es für den Kontext von Bedeutung ist.
Natürlich gibt es auch Wörter im Chinesischen, die aufgrund ihrer Bedeutung männlich oder weiblich sind. Beispiel: Nüshi (die Frau) oder xiansheng (der Herr). Auch in China begrüßt der Redner (oder die Rednerin!) die Gäste gerne mit „nüshi men, xiansheng men“ im Sinne von „meine Damen und Herren“. Es gibt aber, anders als in den meisten Sprachen, keinen Unterschied zwischen „Genossinnen und Genossen“, „Studenten und Studentinnen“ oder „Austronautinnen und Astronauten“. Es braucht keinen Doppelpunkt und kein Gender-Sternchen, weil all diese Worte ohnehin geschlechtsneutral sind. Für Chinesisch-Lernende ist das manchmal geradezu eine Herausforderung. In einer Erzählung kann man bis zum Schluss darüber im Unklaren bleiben, ob der Protagonist eine Frau ist oder ein Mann.
Es hilft hier auch nicht, dass Adjektive – genau wie Verben – im Chinesischen nicht verändert werden. Sie geben also ebenfalls keinen Hinweis auf das Geschlecht einer Person. Eindeutigen Hinweis auf das Geschlecht gibt ausschließlich das Personalpronomen (er, sie, es), was zu allem Überfluss weggelassen werden kann. Sichtbar wird die Eigenschaft des Personalpronomens zudem nur im Schriftlichen. Denn „er“, „sie“ und „es“ heißt im Chinesischen „ta“, „ta“ und nochmals „ta“: drei identisch gesprochene Worte mit ein- und derselben Betonung. Nur ihre schriftliche Form lässt erkennen, ob es sich um Maskulinum, Femininum oder Neutrum handelt. Darüber gibt der jeweils linke Teil der drei Schriftzeichen Auskunft. Das weibliche „ta“ besteht aus dem Radikal für „Frau“ und dem Schriftzeichen „ye“, was im modernen Chinesisch „auch“ bedeutet. Im klassischen Chinesisch ist „ye“ ein Partikel mit affirmativem Charakter, ähnlich einem Ausrufezeichen. Das weibliche „ta“ bedeutet also so viel wie „Frau!“. Das männliche „ta“, besteht aus einem „ye“ mit dem vorangestellten Radikal „ren“, in der Bedeutung von „Mensch“. Das männliche „ta“ bedeutet also ursprünglich in etwa „Mensch!“. Interessant ist das neutrale „ta“, welches in der heutigen Schreibweise der VR China ein ganz eigenständiges Schriftzeichen ist. Das ursprüngliche Zeichen aber bestand ebenfalls aus dem „ye“ mit dem vorangestellten Radikal „niu“, was als einzelnes Schriftzeichen so viel heißt wie „Kuh“ oder „Rind“. Als Radikal, also Teil eines Schriftzeichens, verweist „niu“ darauf, dass es sich um ein Tier handelt. Dieses „ta“, das in etwa dem deutschen „es“ entspricht, gilt als unschön. Man sieht es daher eher selten.
Während man also im Mündlichen zwischen den drei „ta“ überhaupt keinen Unterschied hört, ist es dennoch ausgerechnet das „ta“, welches die nahezu einzige Hürde für das Gendern im Chinesischen darstellt.
Inzwischen gibt es diverse Ideen, wie ein eigenständiges Schriftzeichen mit der Aussprache „ta“ geschaffen werden könnte, mit dem sich geschlechtsspezifische Assoziationen gänzlich vermeiden lassen. Ein Beispiel ist das zusammengesetzte Schriftzeichen „ta“ bestehend aus einem lateinischen x und dem Zeichen „ye“, welches den traditionellen „ta-Formen“ gemeinsam ist.
Eine weitere kreative Lösung ist das Ausschreiben von „ta“ in der VR-weit genutzten lateinischen Umschrift Pinyin. Dann steht in einem chinesischen Text immer dann ein „ta“ in lateinischen Buchstaben, wenn weder die weibliche noch die männliche Form gemeint ist. Es kann auch für alle drei Formen stehen, wenn der Text insgesamt nicht spezifizieren will. Eine pragmatische und ziemlich einfache Lösung.
Es gibt aber auch Neuerfindungen von Schriftzeichen, indem bekannte Bestandteile existierender Zeichen, sogenannte Radikale, zu ganz neuen Zeichen zusammengesetzt werden. Die Schwierigkeit dabei ist dann technischer Natur. Ein solches Zeichen lässt sich auf dem Papier entwerfen. Wie aber schreibt man es auf dem Handy oder PC, wenn das Schriftzeichen noch nicht in den offiziellen Wortschatz aufgenommen wurde? Anders als im Deutschen, wo jede neue Wortschöpfung schreibbar ist, egal, ob das Wörterbuch sie kennt, ist man im Chinesischen darauf angewiesen, dass das Gerät, auf dem geschrieben wird, das Schriftzeichen im Repertoire hat. Wer etwa „Hund“ schreiben will, tippt beispielsweise mit lateinischen Buchstaben die Aussprache ein, hier „gou“, und sucht dann das Zeichen für Hund unter allen Zeichen mit gleicher Aussprache aus, die das Gerät zur Auswahl stellt. Das Zeichen muss aber zur Auswahl stehen.
Solche Schwierigkeiten sind im Vergleich mit den Schwierigkeiten im Deutschen nahezu unterkomplex. Sollte sich ein neues Zeichen nämlich durchsetzen, wäre es schließlich ein Leichtes, es ins Repertoire und in die Wörterbücher aufzunehmen.
Die Psychologie zeigt: Wenn wir immer nur von Ärzten reden und nicht von Ärztinnen, von Krankenschwestern nicht aber von Krankenpflegern, dann verinnerlichen Kinder unterbewusst, dass Mädchen Krankenschwestern werden können aber eher nicht Ärztinnen. Jungen prägen sich ein, dass sie Ärzte werden könnten, aber eher nicht Krankenpfleger. Das kann gravierende Folgen haben. Schließlich brauchen wir sowohl Ärztinnen als auch Krankenpfleger. Das ist eines der Argumente für die Wichtigkeit inklusiver und geschlechtsneutraler Sprache. Weil sie den Weg ebnet zu mehr Gleichbehandlung auch im sozialen und politischen Sinne. Eine gerechte Sprache, so die Theorie, schafft auch die Grundlage für gelebte Gerechtigkeit.
Auch in China aber ist der Beruf der Krankenschwester ein typischer Frauenberuf. Und das liegt nicht an der Berufsbezeichnung. Das chinesische „hu shi“ bezeichnet ganz neutral eine Person, die Kranke pflegt. Obwohl der Begriff im Grunde geschlechtsneutral ist, findet sich manchmal der Begriff „nan hu shi“, also „männliche Person die Kranke pflegt“. Diese eigentlich unsinnige Spezifizierung zeigt, dass der Beruf auch in China als femininer Beruf wahrgenommen wird. Es gibt eben nicht den Begriff „nü hu shi“ (weibliche Person, die Kranke pflegt). Das bedeutet natürlich nicht, dass sprachliche Gleichbehandlung, dass „gendern“ nicht wichtig wäre. Es bedeutet vielmehr, dass eine Ungleichbehandlung der Geschlechter auf eine Vielzahl von Faktoren zurückgeht und nicht auf Sprache allein.
Wenn es im chinesischen so etwas wie eine Gender-Debatte überhaupt gibt, dann geht es am ehesten um die Frage der Anwendung von „ta“, oder eben um Fragen der Berufsbezeichnungen. „Hu shi“ (Kranken-schwester/pfleger) ist ein Beispiel, bei dem der Beruf als feminin ausgelegt wird. Es gibt auch Beispiele, wo eigentlich neutrale Berufsbezeichnungen als eher maskulin ausgelegt werden. Manchmal nämlich, wird gewissen Berufsbezeichnungen wie „Arzt“ oder „Wissenschaftler“, das Zeichen „nü“ (Frau) vorangestellt, um klarzustellen, dass es sich im konkreten Fall um Frauen handelt. Aus „yi sheng“ (Arzt) wird dann „nü yi sheng“ und aus „ke xue jia“ (Wissenschaftler) wird dann „nü ke xue jia“. Das ist nicht etwa so als spräche man von der Ärztin oder Wissenschaftlerin, nein es ist viel mehr als würde man im Deutschen vom „weiblichen Wissenschaftler“ oder dem „weiblichen Arzt“ sprechen. Am deutlichsten wird es am Begriff ke xue jia (Wissenschaftler). Es setzt sich aus den Zeichen „kexue“ (Wissenschaft) und „jia“ (in dem Falle „Experte“) zusammen. Das Wort „jia“ steht schlicht für eine Person mit Fachkenntnissen. Es ist kein explizit maskuliner Begriff. Anders als übrigens im weiblich assoziierten Begriff der Krankenschwester, in dem paradoxerweise das Zeichen „shi“ ursprünglich eine eher männliche Bedeutung innehatte. Im alten China nämlich war ein „shi“ ein Soldat, ein Beamter oder ein besonders ausgebildeter Gelehrter (das waren damals üblicherweise Männer). Im Gegensatz dazu ist „jia“ aus dem chinesischen Wort für Wissenschaftler ein geschlechtsneutraler Begriff. „Jia“ bedeutet übrigens auch Familie, Zuhause oder im philosophischen Kontext „Denkschule“. Die Chinesische Sprache genießt also eigentlich den Vorteil bereits eine geschlechtsneutrale Berufsbezeichnung gefunden zu haben. Und eben dies ist der Grund warum Frauen es dann als diskriminierend empfinden können, wenn man das Wörtchen „nü“ voranstellt. So als handele es sich um ein männliches Berufsfeld, in dem es einer besonderen Erwähnung bedarf, wenn mal eine Frau diesen Beruf ausübt. In China wird die Genderdebatte quasi andersherum geführt. Bei uns fordern Feministinnen, dass weibliche Bezeichnungen endlich auch explizit zu benennen sind. In China fordern Feministinnen eben diese zu vermeiden. Weil sie in China überhaupt erst suggerieren, ein Beruf sei eine Männerdomäne. Aber eben auch weil die bestehenden Begriffe im Chinesischen eigentlich neutral sind.
Auch in China ist in Punkto Gleichberechtigung noch vieles ausbaufähig. Was die sprachliche Gleichbehandlung der Geschlechter anbelangt, aber dürfte das Chinesische im Vergleich zu vielen anderen Sprachen dennoch die Nase vorn haben.
Info:
Mehr Informationen zu geschlechtsneutralen Personalpronomen im Chinesischen gibt es hier (auf Englisch): www.capstan.be/the-gradual-rise-of-gender-neutral-pronouns-in-hong-kong-and-mainland-china/