Plötzlich war das Papier mit dem Aufdruck „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ auf dem Markt. Zuerst hatten es Spiegel-Journalisten in den Händen. Danach Vertreter anderer Medien, die alle stolz dessen Besitz verkündeten. Auch in den Berliner-Polit-Zirkeln machte das dann nicht mehr so geheime Geheimpapier schnell die Runde. Die Rede ist von einem Entwurf einer China-Strategie aus dem Auswärtigen Amt: 59 Seiten, lange Einleitung, zwölf Kapitel. Überschrift: „China verändert sich – unser Umgang mit China muss sich ebenfalls verändern.“ Das Papier greift den mittlerweile berühmten Dreiklang Partner-Wettbewerber-Rivale auf, betrachtet die drei Elemente aber nicht mehr gleichwertig. Die Betonung liegt auf Rivalen. Die systemische Rivalität sei „zu einem prägenden Element …geworden.“ Kritisiert werden die systematische Aufrüstung Chinas und unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von China. Zu Letzterem heißt es: „Die Abhängigkeit von russischem Gas haben wir mit einem hohen Preis bezahlt, ein solches Risiko dürfen wir nicht noch einmal eingehen.“ Die Abhängigkeit von China soll deshalb „zügig und mit für die deutsche Volkswirtschaft vertretbaren Kosten verringert werden“. Geschehen soll dies durch Diversifizierung und durch die Überprüfung von Garantien und Exportkrediten an Unternehmen, die in China investieren wollen..
Das sind alles keine überraschenden Erkenntnisse und Forderungen. Wer die Reden von Außenministerin Annalena Baerbock bis dato sezierte, konnte prognostizieren, was da drinstehen würde. Viel interessanter als der erwartbare Inhalt ist für mich allerdings der Entstehungsprozess dieses AA-Papiers. Er fand weitgehend hinter verschlossenen Türen statt – ganz im Gegensatz zu der parallel laufenden Erstellung einer Nationalen Sicherheitsstrategie, bei der es Workshops und Townhall-Meetings gab, an der teilweise auch die Ministerin teilnahm. Da verhielt sich das AA geradezu vorbildlich partizipativ. Bei der Formulierung der China-Strategie hingegen war der bevorzugte Treffpunkt das stille Kämmerlein am Werderschen Markt, dem Sitz des AA. Eine Gruppe um die Asien-Referatsleiterin Petra Siegmund hatte dort die Federführung. Wie bei solchen Vorgängen üblich, wurden Experten geladen. Doch welche das waren, bleibt geheim. Die CDU/CSU-Fraktion wollte es wissen und stellte zum Stand der China-Strategie der Regierung eine Kleine Anfrage (Drucksache 20/3864), die mit 56 Fragen auf acht Seiten aber groß war. Frage 14 lautete: „Welche nationalen, europäischen und weiteren internationalen Akteure, auch der Zivilgesellschaft, bezieht die Bundesregierung in die laufende Ausarbeitung der China-Strategie ein?“ In Klammern wurde dann noch der fromme Wunsch hinzugefügt: „Bitte die jeweiligen Treffen…darlegen“. Doch die Antwort (Drucksache 20/4441) war lapidar und nichtssagend: „Die Bundesregierung pflegt den ständigen Austausch zu China mit nahezu allen Partnern auf europäischer und internationaler Ebene. National erfolgt ein regelmäßiger Austausch mit Ländern und Kommunen, Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft sowie der Zivilgesellschaft.“ Sorry, ich finde diese Antwort eine Frechheit. Es sind Vertreter des Volkes, die da berechtigte Fragen stellen, aber so herablassend abgespeist werden. Sie haben nicht nach Staatsgeheimnissen gefragt und auch nicht nach Inhalten, sondern nur nach Personen, die das Außenministerium bei der Erstellung einer China-Strategie beraten. Aber vielleicht hätte das AA bei einer Veröffentlichung der Expertenliste eingestehen müssen, dass diese doch etwas zu einseitig geraten sei, dass nur die eingeladen wurden, deren Meinung man gerne hörte. Diesen Verdacht hegte jedenfalls Eberhard Sandschneider, emeritierter Politik-Professor an der FU Berlin und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er sagte bei einem Workshop am 10. November in Berlin: „Wenn sie gehört werden wollen, müssen sie sagen, was die Politiker hören wollen.“ Sein Kollege Michael Staack, Politikprofessor an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg, sprach auf derselben Veranstaltung in Bezug auf die China-Diskussion von einer „Deformation der Meinungsbildung“, in der die Thinktanks dominieren. Vertreter dieser Thinktanks wurden offenbar bei der Erstellung des Strategiepapiers gerne vom AA gehört, zumal sie doch meist die Meinung des Hauses vertreten. Wissenschaftliche Expertise war hingegen nicht gefragt. Diesen Eindruck hat man, wenn man den zweiseitigen Klage-Brief der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde (DGA) vom 19. September an die Bundesaußenministerin liest. Darin klärt der von der Vorsitzenden Nele Noesselt, Professorin der Universität Duisburg-Essen, unterzeichnete Brief zunächst Frau Baerbock auf, wie bedeutend die DGA sei: „Als größte asienwissenschaftliche Fachgesellschaft mit rund 600 Mitgliedern im deutschsprachigen Raum“ sei die DGA „die wichtigste Plattform des Dialogs und der Meinungsbildung zu Asien in Deutschland“. Es wird konstatiert, dass an der Diskussion der China-Strategie „bereits viele Think Tanks teilnehmen“. Ganz im Gegensatz zur Wissenschaft. Deshalb das Angebot: „Diese (unsere) Expertise möchten wir auch für die Entwicklung einer umfassenden Strategie für die Beziehungen mit China und dem weiteren Asien einbringen.“
Das Angebot kommt viel zu spät. Das AA hat seine Meinung längst gebildet und in Papierform gebracht. Das lancierte Papier wird nun innerhalb der Regierung in den verschiedenen Ministerien diskutiert werden. Und natürlich auch im Bundeskanzleramt. Dort sieht man – so berichtete der Spiegel – einigen Korrekturbedarf. Man stoße sich zum Beispiel an der langen Einleitung, in der die Lage düster beschrieben werde. Das Kanzleramt würde sich lieber – so Der Spiegel – auf Leitlinien für den Umgang mit dem Riesenreich konzentrieren. Ich frage mich, warum das Kanzleramt die Federführung dieses wichtigen Papiers dem AA überlassen hat. In anderen Ländern sind solche weitreichenden Dokumente Chefsache. Jetzt droht im Ringen um die richtige China-Strategie Streit auf offener Bühne zwischen Kanzleramt und AA, der auch ein Konflikt zwischen SPD und Grünen ist. Dazu passt, dass kurz vor Redaktionsschluss „The Pionieer“ meldet, dass auch das vom grünen Robert Habeck geleitete Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) an einer China-Strategie arbeitet, die weitgehend fertig sei. Auf 100 Seiten würden dort unter anderem Maßnahmen aufgelistet, wie die deutsche Wirtschaft sich unabhängiger von China machen soll. Das Papier trägt übrigens auch den Aufdruck „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“. Wann leakt das Bundeskanzleramt ein Papier?
Info:
Hier ist die kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion: https://dserver.bundestag.de/btd/20/038/2003864.pdf Und hier die Antwort der Bundesregierung: https://dserver.bundestag.de/btd/20/044/2004441.pdf