GESELLSCHAFT I Mathematik – von China lernen? Von Imke Vidal

Es ist kein Geheimnis, dass der Mathematikunterricht in China besonders erfolgreich ist. Das lässt sich regelmäßig in den Ergebnissen der PISA-Studien nachlesen, wo chinesische Schüler insbesondere in Mathematik immer wieder Rekordergebnisse erzielen. Ebenso Singapur, Hong Kong, Macao und Taipeh. Wohlmöglich liegt das unter anderem am Zahlensystem, das in China sprachlich sehr viel logischer aufgebaut ist als beispielsweise in Frankreich oder Deutschland. Nehmen wir die Zahl 81: Einundachtzig spricht sich im Deutschen entgegen der Schreibrichtung, was nachweislich vielen Rechenanfängern Probleme bereitet. Auf Französisch bedeutet das Wort „quatre-vingt-un“ wörtlich „vierzig-zwanzig-eins“. Kaum eine Sprache macht es noch komplizierter, den Zahlenwert zu verstehen. Im Chinesischen heißt es schlicht „ba shi yi“, was so viel bedeutet wie „acht-zehn-eins“. Wer auf Chinesisch von 1 bis 10 zählen kann, ist folglich auch in der Lage bis hundert zu zählen. Dieses System findet sich jedoch auch in anderen Sprachen (Eighty-one im Englischen zum Beispiel folgt demselben Muster). Es muss also noch weitere Gründe für den chinesischen Mathe-Erfolg geben, das haben im Übrigen gerade die Engländer erkannt. Doch dazu später mehr.

 Tatsächlich sorgt die PISA-Studie immer wieder für Furore. In China, wo man sich regelmäßig an der Spitze wiederfindet, dürfte Zufriedenheit herrschen. In Deutschland ist man dagegen selten zufrieden mit dem Abschneiden der Schüler. Da müsste doch mehr drin sein im Land der Dichter und Denker! So sah man es schon 2002 in der Bertelsmann Stiftung. Unter dem Titel “Wir brauchen eine andere Schule! – Das deutsche Bildungssystem hält nicht, was es verspricht!“ analysiert die Stiftung die Pisa-Ergebnisse und nennt Finnland, Schweden und Kanada als Beispiele, von denen wir lernen können. China als Evergreen unter den PISA-Spitzenreitern wird dagegen mit keinem Wort erwähnt.

Auch für den Journalisten Alan Posener ist China eher abschreckendes Beispiel als Vorbild. Das machte er 2019 unter dem Titel „Die Asiaten tricksen. Steigen wir endlich bei Pisa aus!“ in der Zeitung „Die Welt“ deutlich. Mit „tricksenden Asiaten“ sind primär die Chinesen gemeint. In China, so schreibt Posener richtig, reichten die Behörden nur Testergebnisse aus Peking, Shanghai und zwei weiteren Provinzen ein. Nicht unbedingt repräsentativ für das Riesenreich. Doch die chinesische Regierung, so der Autor, ginge davon aus, „dass anderswo massiv geschummelt wurde.“ Selbst aus Peking gebe es Berichte, nach denen schwache Schüler gebeten wurden, sich am Pisa-Testtag krank zu melden. „Vertrauen in die Kultur ist gut, kontrollierter Sieg ist besser“, resümiert Posener. Also alles nur Pfusch im Reich der Mitte? Sind die Chinesen in Wirklichkeit gar nicht so erfolgreich in Mathe? Doch Posener selbst weiß es besser: „Kinder ostasiatischer Zuwanderer“ seien „den anderen britischen Schülern in Mathematik weit überlegen, ganz gleich, welche Lehrmethoden angewendet werden.“ Auch chinesische Schüler außerhalb Chinas fallen demnach durch gute Leistungen in Mathe auf, ganz ohne Zutun der Regierung. Dafür hat der Autor dann auch gleich eine Erklärung parat: „Das Klischee der durch ‚Tigermütter‘ zu Höchstleistungen angetriebenen Asiaten scheint zu stimmen.”  

Wenn der chinesische Mathe-Erfolg also hauptsächlich auf drakonische mütterliche Strenge zurückgeht, sollte China uns nicht als Blaupause dienen.

Ganz anders in Großbritannien: Hier kennt man solche Skrupel nicht und setzt stattdessen auf das chinesische Mathe-Model. Ex-Premierministerin Theresa May scheute sich während eines Chinabesuchs im Jahr 2018 nicht, 550 Millionen Pfund für ein britisch-chinesisches Kooperationsprojet zur Förderung mathematischer Bildung auszugeben. Sie hoffte, damit bis 2020 die mathematischen Leistungen britischer Schüler verbessern zu können. Schon 2014 hatte Großbritannien ein gezieltes Lernprogramm aufgelegt, mit dem Schüler das 1×1 nach chinesischer Methodik einstudierten. Mit Erfolg. Die Leistungen britischer Schüler konnten tatsächlich verbessert werden. Und keine Sorge: Der Rohrstock musste dafür in Großbritannien nicht eingeführt werden. Der Erfolg lässt sich anders erklären. Und dazu gilt es die unterschiedlichen Herangehensweisen an den Mathematik-Unterricht in China und dem Vereinigten Königreichs zu betrachten.

Der Wissenschaftler Xu Wenrui vom Londoner King‘s College hat die unterschiedlichen Mathe-Lehrmethoden an Grundschulen in China und Großbritannien studiert und kommt in seinem Vergleich zu interessanten Ergebnissen: Britische Lehrer, stellt er fest, seien überzeugt davon, dass Schüler unterschiedliche Begabungen und Wissensstände hätten. Darum stütze man sich dort auf ein Lehrprinzip, das versucht, den Schülern individuell gerecht zu werden. Mathematische Fragen im britischen Schulunterricht würden darum individuell an die Schüler gerichtet, weil dies am ehesten ermögliche, jeden Schüler bestmöglich zu fördern und ihn dort abzuholen, wo er stehe.

Zwei Schülern dieselbe Frage zu stellen, scheint insbesondere im Matheunterricht wenig sinnvoll. Wird beispielsweise das 1×1 abgefragt, wird sicher kein britischer Schüler gefragt, wieviel 3×2 ergibt, wenn die Frage zuvor bereits von einem Mitschüler beantwortet wurde. In China dagegen ist das nicht ungewöhnlich. Dort verfolgt der Unterricht nämlich ein ganz anderes Ziel. Statt individueller Förderung geht es um die Gruppe insgesamt und eben nicht darum jeden einzelnen optimal zu fördern. Dafür sorgen im Zweifel zuhause die Eltern, die in China oft einiges in Privatunterricht investieren. In der Schule aber heißt es: Gruppe vor Individuum. Man kommt nicht umhin, darin die Bestätigung kommunistischer Grundgedanken zu wittern.

Folgt man Xu Wenrui, lässt sich daraus für die Praxis schließen, dass in chinesischen Grundschulen immer wieder dieselben Fragen gestellt werden. So soll sichergestellt werden, dass auch das schwächste Mitglied der Gruppe nicht abgehängt wird. Erst wenn alle denselben Kenntnisstand haben, geht es weiter.

„2+2 macht 4“, sagt etwa ein chinesischer Erstklässler auf die Frage der Lehrerin, die dann dem nächsten Kind genau dieselbe Frage stellt. Am Ende wiederholt vielleicht noch die ganze Klasse im Chor „2+2 macht 4!“. Das droht öde zu werden. Besonders wenn man ein Schnelllerner ist. Aber das chinesische Konzept des „fuxi fuxi“ (wiederholen, wiederholen) entspricht letztlich der Arbeitsweise unseres Gehirns. So lernt der Mensch von Geburt an.

Ein Kleinkind wird nicht müde auf den Apfel zu deuten und „Apfel“ zu sagen. Es weiß bereits, dass es sich um einen Apfel handelt, bevor es zum ersten Mal „Apfel“ sagt. Trotzdem wiederholt es das Spiel unendlich. Am Anfang um sich seiner Sache sicher zu sein, später, weil es die Wiederholung braucht, damit das gelernte Wort vom Kurz- in das Langzeitgedächtnis übergehen kann. Kleinkinder machen das intuitiv. Aber „fuxi“ (wiederholen) allein bringt noch kein Verständnis. Dafür braucht es in der Mathematik die Übung durch Anwendung. Auch das gehört wie in Großbritannien auch an chinesischen Grundschulen zur mathematischen Grundausbildung.

2+2 macht 4 lässt sich auswendig lernen, ohne Bezug zu den Zahlen aufzunehmen. Erst die Anwendung bringt dann den Erfahrungswert. Im chinesischen Matheunterricht wird darum Wert darauf gelegt, dass verschiedene Lösungswege aufgezeigt und von den Kindern geübt werden. Denn auch darum geht es beim Prinzip von Wiederholung und Anwendung.

Aufgaben im zweistelligen Bereich lassen sich unterschiedlich lösen, wenn man dieses Prinzip verinnerlicht hat. 35+43 lässt sich rechnen, indem man 5+3 und 30+40 rechnet, und dann die Ergebnisse addiert. Aber eben auch indem man die 35 zur 40 aufrundet und die dazugezählten 5 am Ende wieder abzieht. Also 40+43=83 und 83-5=78.

Interessant ist aber nicht nur die Methode. Auch psychologische Aspekte spielen beim Lernen nachweislich eine Rolle. Xu Wenrui stellt fest, dass chinesische Mathelehrer eben nicht von unterschiedlichen Veranlagungen ausgehen, sondern schlicht die Klasse als Gemeinschaft unterrichten. Das funktioniert je nach Kind vermutlich genau wie in Großbritannien, mal mehr und mal weniger gut. Aber es vermeidet die Vorstellung, dass die einen „Mathe können“ und andere eben nicht.

Nehmen wir als Beispiel den Begriff der „Dyskalkulie“. Das klingt auf Deutsch nach unheilbarer Krankheit. Auf Chinesisch nennt man das „jisuan zhangai“, von „ji suan“ rechnen und „zhang ai“ Schwierigkeit oder Hürde. Es geht also in China um Kinder, die beim Rechnen auf Schwierigkeiten stoßen und die deshalb gewisse Hürden überwinden müssen. Die meisten Schwierigkeiten und Hürden können aber überwunden werden. Und auf Schwierigkeiten zu treffen, das kann jedem passieren. Das muss nicht bedeuten, dass das Problem beim Kind liegt. Wenn es gelingt eine Schwierigkeit zu meistern, wächst sogar unser Selbstvertrauen. Das Wort „Dyskalkulie“ dagegen ist eine wie Diagnose ohne Medizin. Wenn ein Kind Dyskalkulie hat, wird es dann überhaupt je leisten können, was wir bei anderen als „normal“ voraussetzen? Es lässt sich leicht vorstellen, wie schwer es dem Kind fällt, sich fürs Mathe-Lernen zu motivieren, wenn es guten Grund zu der Annahme hat, dass dies wenig Aussicht auf Erfolg hat. Hüben wie drüben gibt es wohl Kinder, denen Mathe schwer fällt. Aber in China, das zeigen verschiedenste Studien, gibt es besonders viele, denen es leicht fällt.

Ein weiterer psychologischer Aspekt, der sich auf das mathematische Leistungsvermögen auswirkt, sind geschlechtsspezifische Stereotype. Viele Studien zeigen, dass Frauen scheinbar ein weniger ausgeprägtes mathematisches Verständnis haben. Auch in der Hirnforschung gibt es bis heute die These, dass Männergehirne für technisches und mathematisches Denken besser geeignet sind. Immer wieder schneiden Frauen im Rahmen von wissenschaftlichen Studien in Mathe schlechter ab als Männer. Schlechtere Testergebnisse bei Frauen werden inzwischen aber auch damit in Verbindung gebracht, dass Frauen vielfach der Suggestion ausgesetzt sind, gegenüber Männern von Natur aus im Nachteil zu sein. Das beeinflusst die Leistung deutlich. Testreihen konnten zeigen, dass Frauen in mathematischen Tests schlechter abschnitten, wenn ihnen gesagt wurde, es gäbe geschlechtsspezifische Unterschiede. In Testsituationen, in denen auf solche Suggestionen verzichtet wurde, schnitten Frauen durch die Bank besser ab. Das traf selbst auf Mathematikstudentinnen zu, die an ihren Unis zu den Besten zählten, bei denen es also im Prinzip keine Zweifel an ihrem besonderen mathematischen Verständnis hätte geben dürfen.

In China ist das Thema ambivalent. Einerseits, tritt die Kommunistische Partei seit 1949 für Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein. Andererseits gilt Mathematik auch in China bis heute als Männerdomäne. Verschiedene Studien konnten in China keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den mathematischen Zulassungsprüfungen für die chinesische Mittelschule feststellen. Was sicherlich als Erfolg zu werten ist. Dafür konnte mindestens eine Studie aber feststellen, dass es unter den sogenannten „high math scorern“, also in der Gruppe mit Bestleistungen, dann doch solche Unterschiede gab. Vereinfacht gesagt: Je höher die erreichten Leistungspunkte einer Gruppe, desto weniger Frauen gab es in der Gruppe.

Ebenso verhält es sich auf dem Arbeitsmarkt. Einerseits finden sich in China Frauen in mathematischen Berufen, auch in höchsten Positionen. Gleichzeitig sind Frauen aber auch in China in solchen Berufen deutlich unterrepräsentiert. Ähnlich wie im Rest der Welt bleibt dabei die Frage offen, ob dies daran liegt, dass Frauen es in dieser Domäne wirklich schwerer haben als Männer, oder ob sich Frauen aus ganz anderen Gründen häufig für andere Berufe entscheiden.

Die chinesische Schulausbildung scheint jedenfalls keine schlechte Grundlage zu sein, um Jungen und Mädchen gleichermaßen mathematisch zu fördern. Vielleicht machen es die Briten, die immer gern eine Extrawurst braten, ja richtig, wenn sie sich Chinas Modell genauer ansehen. Inzwischen gibt es im Fach Mathematik einen regen Austausch zwischen britischen und chinesischen Schulen. Wenn das am Ende nicht dem mathematischen Verständnis dient, so dient es sicherlich den Beziehungen zwischen Briten und Chinesen.

Infos:

  • Petra Beckhoff, Bertelsmann Stiftung, (2002), „Konsequenzen aus PISA Positionen der Bertelsmann Stiftung Wir brauchen eine andere Schule! Das deutsche Bildungssystem hält nicht, was es verspricht!“
  • Xu Wenrui, “Research on Elementary Mathematics Education Between China and Britain” Proceedings of the 2021 4th International Conference on Humanities Education and Social Sciences (ICHESS 2021), In: Advances in Social Science, Education and Humanities Research, volume 615 pp:2200-2204  
  • Ming Tsui, Xiao-ying Xu, Edmond Venator & Yan Wang (2016) Stereotype Threat and Gender: Math Performance in Chinese College Students, Chinese Sociological Review, 48:4, 297-316
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