GESELLSCHAFT I In Würde sterben – in Shenzhen bald möglich

Shenzhen ist seit Beginn der Reformpolitik 1978 eine Modellstadt. Damals wurde die Ansammlung mehrerer Fischerdörfer gegenüber Hongkong als eine von fünf Sonderwirtschaftszonen ausgewählt. Hier durfte man in den Folgejahren vieles machen, was andernorts in China noch verboten war. Shenzhen war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Laborstätte, wo vieles ausprobiert werden konnte, um im Erfolgsfalle dann im ganzen Land eingeführt zu werden. Jetzt ist die 20-Millionen-Metropole wieder mal bei einem sehr heiklen Thema vorgeprescht – dem Sterberecht. Die Stadtverwaltung hat eine Verordnung verabschiedet, nach der die Einwohner ihrer Stadt per Patientenverfügung entscheiden können, ob und wann sie bei einer schweren Krankheit nicht mehr behandelt werden wollen. Das medizinische Personal muss sich dann an diesen „letzten Willen“ halten. Die Verfügung muss notariell beglaubigt und von zwei Zeugen bestätigt werden. Die neue Regelung gilt ab dem 1. Januar 2023 und ist für das Land revolutionär. In Würde sterben – für Wang Yu, der an der Peking Universität medizinische Ethik und Recht lehrt, ist das ein Zeichen einer „zivilisierten Gesellschaft“, zitiert ihn „Week in China“. Aber traditionell beschäftigt man sich in China wenig mit dem Tod. Es ist eher ein Tabu-Thema. Tracy Wang, Generalsekretärin der Beijing Living Will Promotion Association, sagte gegenüber „South China Morning Post“: Throughout our life, there´s little information about life and death.” So ist es auch nicht verwunderlich, dass nur wenige Chinesen über das Instrument der Patientenverfügung informiert sind und sich auch nur wenige medizinische Einrichtungen mit Palliativmedizin und -pflege beschäftigen. Nach Auskunft der National Health Commission gibt es landesweit nur 510 Einrichtungen solcher Art. Viel zu wenig für ein so großes Land. Deshalb gilt es zunächst Aufklärung zu betreiben. Wang: „At the current stage, our biggest mission is still letting more people know, that there is a third choice” – neben einem Dahinsiechen zu Hause oder dem Hängen an medizinischen Geräten im Krankenhaus.. Das Thema hat auch eine wirtschaftliche Dimension. China ist eine schnell alternde Gesellschaft. Man muss sich deshalb die – pietätlos erscheinende – Frage stellen, ob sich das Land mit seinem nach wie vor ausbaufähigen Gesundheitssystem überhaupt leisten kann, so viele alte schwerkranke Menschen lebensverlängernd zu behandeln. Shenzhen jedenfalls hat mit seiner Verordnung einen wichtigen Anfang gemacht und den nötigen Anstoß für eine notwendige Diskussion gegeben. Nochmals Tracy Wang: “With Shenzhen making a good start, I believe ultimately similar regulations will spread over the country, but this may take a very long time.”

Info:

Die neue Regelung von Shenzhen im – allerdings chinesischen – Wortlaut: http://www.szrd.gov.cn/rdlv/chwgg/content/post_826158.html

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