WISSENSCHAFT I Chinas Vordenker

Sie kennen uns, aber wir kennen sie nicht. Über die Asymmetrie des Wissens zwischen China und Europa wurde schon viel lamentiert, aber passiert ist trotzdem nicht viel, um dieses Defizit auszugleichen. Nach wie vor wissen wir viel zu wenig, wie China tickt und denkt. Das gilt auch für die wissenschaftlichen Diskurse. Es ist eben nicht so, wie viele glauben (machen wollen), dass Chinas Intellektuelle nur lammfromm Parteipropaganda nachplappern und ängstlich Diskussionen vermeiden. Darauf haben dankenswerterweise Daniel Leese und Shi Ming in einem Beitrag in der ZEIT (Ausgabe vom 13. April) hingewiesen. Die beiden Autoren – Sinologie-Professor der eine, Journalist der andere – beschreiben in dem Artikel „Und was denkt China?“ die verschiedenen Denkschulen über Chinas Rolle in der Welt. Grob unterscheiden sie dabei vier Denkrichtungen: Realisten, Institutionalisten, Neo-Maoisten und Utopisten. Die Realisten präsentieren den Mainstream. Ihre prominentesten Vertreter sind Yan Xuetong (Tsinghua) und Zhang Wenmu (Beihang Universität Beijing).  Yan Xuetong preist in seiner Theorie des moralischen Realismus vor allem den Herrschaftstypus der „humanen Autorität“, den China anstreben solle, um einen Führungsanspruch für die Welt zu erwerben. Prominenteste Stimme der Institutionalisten ist Qin Yaqing (Präsident der Universität für Außenpolitik). Er gehe davon aus, dass große und kleine Staaten harmonisch miteinander kooperieren können. Der Aufstieg Chinas müsse nicht zwangsläufig in einem Supermachtkonflikt enden. Dieser Gedanke sei aber inzwischen einer Desillusionierung gewichen. „Die Option, dass andere Staaten China freiwillig größeren Raum in der bestehenden Ordnung einzuräumen gewillt sind, wird zunehmend pessimistisch beurteilt“, schreiben Leese und Shi. Die Neo-Maoisten um Zhang Hongliang (Nationalitätenhochschule) und den Militär Dai Xu schreiben vor allem gegen den US-amerikanischen Imperialismus an. Sie versuchen den chinesischen Sozialismus im globalen Systemvergleich zu stärken. Als Utopisten bezeichnen Leese und Shi „Systemdenker, die versuchen, alternative Weltordnungen zu entwerfen. Der Bekannteste unter ihnen ist der Philosoph Zhao Tingyang mit seinem Tianxia-Konzept. Dieses Konzept stehe für eine universalistische Ordnung, die nicht von Kampf, sondern von friedlicher Koexistenz geprägt sei. Bezeichnend für das deutsche Desinteresse ist, dass es von den vorgestellten Vordenkern nur das Werk von Zhao Tingyang in Deutsch gibt und zwar bei Suhrkamp unter dem Titel „Alles unter dem Himmel.“ Immerhin gibt es einiges in Englisch. Man kann dem letzten Satz von Leese und Shi nur beipflichten: „Das lesende Publikum im Westen hat (also) einiges nachzuholen“. Die Gelegenheit dazu bekommt der deutsche Leser Anfang nächsten Jahres. Dann wird von den beiden Autoren im C. H. Beck Verlage eine Anthologie über chinesische Gegenwartsdenker erscheinen.

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