CHINESISCHER ALLTAG I Tierische versus künstliche Intelligenz – Warum Blindenhunde so umstritten sind / Von Imke Vidal

Chinas Städte und erst recht die Dörfer des Landes stellen für blinde Menschen eine Herausforderung dar. Auch wenn sich viel tut, ist die öffentliche Infrastruktur in China noch längst nicht überall an den erschwerten Alltag blinder Menschen angepasst. Rund 17,3 Millionen blinde Chinesen stellen sich ihm täglich. Gutausgebildete Blindenhunde können ihnen helfen, diesen Alltag zu erleichtern. Als treue Begleiter, die zuverlässig Hindernisse erkennen und darauf reagieren, haben sie sich weltweit bewährt. Auch in China gibt es inzwischen ein standardisiertes System zur Ausbildung und Vermittlung von Blindenhunden, das allerdings noch in den Kinderschuhen steckt. 2006 erst wurde Chinas erste Ausbildungsstation für Blindenhunde in Dalian gegründet.

    Und: nicht jeder Hund eignet sich als Blindenhund. Mindestens 30 Befehle müssen die Hunde kennen und beispielsweise in der Lage sein, die Verkehrssituation an einer Kreuzung richtig einzuschätzen, um ihren Besitzer sicher über die Straße leiten zu können. Dabei richten sich die Hunde nicht nach den Lichtzeichen der Ampel, die für Hundeaugen schwer erkennbar sind. Sie beobachten und treffen schließlich eigenständig eine Entscheidung. Die anspruchsvolle Spezialausbildung stellt darum hohe Anforderungen, an denen in der Regel die Hälfte der Hunde in den Ausbildungsprogrammen scheitert. Sie werden dann als reguläre Haustiere vermittelt. Die anderen kommen am Ende tatsächlich als Blindenhunde zum Einsatz. Und das sind in China jährlich nur um die 35 Hunde, was erklärt, warum es 2020 chinaweit nur etwas mehr als 200 Blindenhunde gab.

    In Chinas Blindenhund-Vermittlungen gehen jedes Jahr um die 200 Anfragen ein. Um aber Anspruch auf einen solch hochqualifizierten Vierbeiner zu haben, müssen auch auf Seiten der Antragsteller bestimmte Kriterien erfüllt sein. Zwischen 18 und 50 Jahre alt muss man beispielsweise sein, es muss eine Sehbeeinträchtigung ersten oder zweiten Grades vorliegen und konkreter „Reisebedarf“ muss nachgewiesen werden. Doch selbst, wenn alle Kriterien erfüllt sind, kann dem Großteil der Anfragen nicht nachgekommen werden, solange auf die 200 Anfragen nur 35 neuausgebildete Blindenhunde pro Jahr kommen. Ein Ungleichgewicht, das sich nicht so leicht beheben lässt. Denn es fehlt an Ausbildungsprogrammen für die Tiere.   

   Als 2021 ein Artikel in den chinesischen Medien auf das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Bedarf an Blindenhunden hingewiesen und auch noch erklärt hat, dass die Ausbildung pro Tier rund 200 000 Yuan (rund 27 500 Euro) kostet, entbrannte im Netz eine Debatte über den Sinn von Blindenhunden. Sie wurden schnell als „Luxusgüter“ gebrandmarkt. Die meisten Betroffenen könnten sich einen solchen Hund gar nicht leisten, so der Vorwurf. Außerdem gebe es elektronische Navigationssysteme, die ähnliches leisten und dabei viel günstiger seien, las es sich in einigen Berichten. Ein Artikel vom 2. Juli 2021 wies auf die fortschreitende Entwicklung von KI-basierten Navigationssystemen mit Sensortechnik als Ersatz für Blindenhunde hin. Weil sich blinde Menschen langsamer bewegen, seien die Anforderungen an die Technik gar nicht so hoch. Während herkömmliche Navigationssysteme auf Gehgeschwindigkeiten von 10, 20 oder 30 Metern pro Sekunde reagieren müssten, gehe es bei blinden Menschen um Gehgeschwindigkeiten von nur 1 Meter pro Sekunde. Solche Technologien würden mittlerweile immer kleiner und kostengünstiger.

   Weitere Berichte sahen das Problem darin, dass staatliche Fördergelder, die in die Ausbildung von Blindenhunden fließen, an anderer Stelle fehlen. Blindenhunde kämen nur einigen wenigen zugute, da sei es besser, in eine Verbesserung der Infrastruktur zu investieren. Zum Beispiel in die Beschilderung in Blindenschrift, in barrierefreie Zugänge zu öffentlichen Transportmitteln oder intelligente Ampeln.

   Li Qingzhong, Vorsitzender des chinesischen Blindenverbandes, aber sieht staatliches Geld für Blindenhunde gut angelegt. Die Hunde seien für die Blinden kostenlos. Die im Alltag anfallenden Kosten für Nahrung oder den Tierarztbesuch seien nicht höher als für andere Haustiere. Im Sinne des Gesetzes zum Schutze von Menschen mit Behinderungen und der Verordnung über den Ausbau einer barrierefreien Umgebung hätten blinde Menschen einen legitimen Anspruch auf Unterstützung durch einen Blindenhund. Umso wichtiger sei die gesellschaftliche Toleranz gegenüber den Hunden, an der es gelegentlich noch mangele. Insbesondere die Serviceindustrie müsse, so Li Qingzhong in einem Artikel vom April 2021, nach geltender Gesetzeslage akzeptieren lernen, dass Blinde in Begleitung ihres Hundes freien Zugang zu allen öffentlichen Einrichtungen haben.

    Das ist in China offenbar längst nicht immer der Fall. Chen Yan, die erste blinde Klavierstimmerin des Landes, erzählt von einem Vorfall: Als sie mit Freunden essen gehen wollte, habe sie ein Restaurant zuvor telefonisch gebeten, ihren Blindenhund mitbringen zu dürfen. Das Restaurant aber beharrte darauf, dass Hunde dort nicht erwünscht seien. Also ließ Chen Yan den Hund zuhause und ließ sich, rechts und links untergehakt, von ihren Freunden führen. Ins Gespräch vertieft übersahen ihre Freunde eine Unebenheit auf der Straße. Chen Yan stürzte und verletzte sich. Mit ihrem Hund, sagt sie, wäre das nicht passiert.

   Auch Herr Li, ein freiberuflicher Musiker aus Sichuan, ist froh über den Hund an seiner Seite, der es ihm ermöglicht, zu Auftritten zu fahren, ohne auf die Hilfe Angehöriger angewiesen zu sein. Für ihn ist der Hund weit mehr als ein Hilfsmittel. „Wir sind unzertrennlich“, sagt er. Der Hund sei für ihn ein Familienmitglied.

   Und doch ist die Konkurrenz für die Hunde mächtig. Im technik-verliebten China liegt es nahe, dass elektronische Blindenstöcke und KI-basierte Navigationssysteme sie auf kurz oder lang verdrängen. Li Qingzhong vom chinesischen Blindenverband aber hält dagegen. Obwohl Li in neuen Technologien viel Potential sieht und in naher Zukunft erwartet, dass sie Blinden praktische Hilfe auch auf Reisen bieten kann, sieht er den aktuellen Stand der Technik kritisch. „Bisher kann die Technik einen Blindenhund nicht ersetzten“, ist sich Li sicher. Er nennt Sicherheitsgründe, weil auch die beste Technik manche Gefahren nicht erkennt, aber auch die emotionale Beziehung zwischen Hund und Mensch, die erst für ein geistiges Wohlbefinden blinder Menschen sorge.

In dem Vorsitzenden des Blindenverbandes haben Chinas Blindenhunde offenbar einen großen Fürsprecher. Zu einer vom Überleben bedrohten Spezies aber muss man sie wohl trotzdem zählen.

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