RUMREISEN I Zhangjiakou / Von Peter Kreutzberger

Mitte der 90er Jahre habe ich beim Landeanflug auf Beijing eine Karawanserei, eine ummauerte Herberge an Karawanenstraßen, gesehen. Chinesische Mauern regten mein Interesse seit meinem Studium in China. Gemäß einer Karte aus den 50erJahren musste diese Karawanserei im Gebiet von Zhangjiakou liegen. Ich machte mich also auf den Weg. Meine erste Begegnung mit Zhangjiakou war rein privat und aus landeskundlichem Interesse. Ich habe den Ort später immer wieder besucht und entdeckte dabei seine lange Geschichte. Die Stadt galt als Bollwerk Beijings und Schutz vor nomadischen Beutezügen. Sie liegt auf der Scheide zwischen dem, was früher als „Inneres“ und „Äußeres“ China bezeichnet wurde, eine Grenze zwischen Zivilisation und Barbaren, Sicherheit und Gefahr, Ackerbau und nomadischem Grasland. Die Linie wurde durch die chinesische Mauer gezogen. In Zhangjiakou kann man deshalb Mauerruinen von zehn Staaten aus acht Dynastien finden – vom 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zum Jahr 1644. Die Mauern dienten aber nicht nur dem Schutz, sondern auch dem geregelten Austausch mit der Außenwelt. Der heute noch gebräuchliche mongolische Name der Stadt, Kalgan, heißt „das Tor“. Wer den Schlüssel zu diesem Tor hielt, beherrschte China. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden Chinas Luxuswaren von Zhangjiakou 1500 Kilometer nördlich zum russischen Handelsweg befördert. Dazu bedurfte es einer halben Million Kamele. Neben Seide und Porzellan wurden so auch 80 Prozent des in Europa, vor allem aber in Russland konsumierten Tees über Zhangjiakou gehandelt. Chinesische Kaufleute, Väter des modernen chinesischen Bankwesens, häufig aus der Provinz Shanxi, ließen sich in Zhangjiakou mit Bank- und Handelshäusern nieder, die Filialen in Moskau, Berlin, Paris, London sowie Tokio unterhielten. Sie wurden die reichsten Geschäftspersonen des kaiserlichen Chinas. Aber im 20. Jahrhundert wurden die Stadt und die Region zu einem Armenhaus. Im Zwist mit der Sowjetunion in den 1960er Jahren befürchtete China einen „sozialimperialistischen Angriff“ und schuf in Zhangjiakou eine militärische Bastion zur Verteidigung Beijings. Stadt und Präfektur verschwanden aus den Reiseführern Chinas, die wirtschaftliche Entwicklung kam zum Erliegen, die Region war für Ausländer gesperrt. Zhangjiakou partizipierte von 1978 bis in die 1990er Jahre nicht an der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik. Der Name war nicht nur Ausländern, sondern meist auch Chinesen unbekannt. Doch das ändert sich nun durch die Olympischen Winterspiele. Die Führung der Präfektur sieht darin eine einmalige Chance, die künftige Entwicklung nachhaltig, umwelt- und menschengerecht zu gestalten. Der Slogan lautet: „Die Winterolympiade wird Zhangjiakou wieder auf die Weltkarte zurückführen.“Der Ausbau des Autobahnnetzes sowie die Fertigstellung einer Bahnverbindung für Hochgeschwindigkeitszüge verkürzt die Fahrzeit zwischen Zhangjiakou und dem Zusammenschluss Beijing-Tianjin-Hebei zeitlich um 75 Prozent. Das ist nicht nur gut für Pendler aus Beijing, sondern auch für ausgebildete Arbeitskräfte, die in Zhangjiakou Fuß fassen und in den dort entstehenden Instituten zur Forschung und Entwicklung, in Zweigstellen von Universitäten und in Hochtechnologiebranchen arbeiten wollen. Weitere Schwerpunkte der Wirtschaftsentwicklung sind die Ökologisierung der Bergbau- und Maschinenbauindustrie, die Nutzung der reichen Sonnen- und Windressourcen sowie der Aufbau von Chinas größtem Wasserstoffcluster. Zudem verfügt die Präfektur bereits über eine ökologische Agrarwirtschaft und ist eine der wichtigen Weinproduzenten Chinas. Und auch der Tourismus soll angekurbelt werden. China ist zwar bislang kein Ort mit wintersportlicher Tradition, in der Förderung von Winteraktivitäten sieht die Zentralregierung jedoch ein großes und für Zhangjiakou mit das größte Entwicklungspotential. Das Potential an touristischen Attraktionen ist in Zhangjiakou neben Wintersport, Wein und einer Vorgartenstadt von Beijing groß und bislang nur wenig ausgebaut.Es gibt zahlreiche Mauerruinen mit Militärbefestigungen und Wehrburgen. Darunter stammen einige noch aus der Zeit vor der großen Mauer und bringen uns mit imponierenden Erdwällen noch nach 6000 Jahren zum Erstaunen. Hier sollen mythologische Schlachten zwischen den Gründern der chinesischen Nation gefochten worden sein.Zhangjiakou ist voller verschiedenartiger Volkskultur, sowohl im Kulinarischen wie auch in Feierlichkeiten. Im Grasland, das zum Wohnen in Jurten und Reitausflügen einlädt, finden Musikfeste statt. Zum Chinesischen Neujahr sieht man vielerorts verkleidete Dorfbewohner, die auf Holzstelzen den chinesischen Klassiker „Reise in den Westen“ nachahmen.

*Peter Kreutzberger war über 30 Jahre im Auswärtigen Dienst tätig, davon 17 Jahre in China. Zuletzt war er Generalkonsul in Shenyang. Nach seiner Pensionierung lebt er in Berlin. Er ist Mitautor der 2016 erschienen Veröffentlichung „Zhangjiakou in the Eyes of Foreigners“.

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