GESELLSCHAFT I Die Last der Hälfte des Himmels – Frauen zwischen Kind und Karriere / Von Imke Vidal

Wer verstehen will, in welch schwieriger Lage sich arbeitende Mütter in China befinden, muss sich mit der frühkindlichen Erziehung in China auseinandersetzten. Sie reicht in China oft bis zum Alter von acht Jahren. Viele Kinder werden erst zwischen sechs und acht Jahren eingeschult. Zuvor haben Kinder ab drei zumindest in den Städten ein Angebot an privaten und staatlichen Kindergärten. Größte Herausforderung für junge Mütter sind deshalb oft die ersten drei Lebensjahre eines Kindes. Für die Kleinsten gibt es wenig und abseits der großen Metropolen oft gar keine Betreuungsangebote. Die Folge: Die Kinder müssen zuhause bleiben. Dabei sind es nicht unbedingt die Mütter (oder Väter), die sich um die Babys und Kleinkinder kümmern, sondern viel häufiger die Großeltern. Dieses Modell ist seit dem Eintritt der Frau in das Berufsleben historisch gewachsen, doch wird sein Konfliktpotential oft unterschätzt. Darauf machte die chinesische Soziologin Guo Xin kürzlich in „Chinese Mothering: From One Generation to the Next“ aufmerksam. Guo erklärt das Phänomen aus eigener Erfahrung. Für sie boten sich die Großeltern als einfachste Lösung für das Neugeborenen an. Doch sie erweisen sich wie im Falle Guos oft auch als die schwerste: Denn schnell ist die junge Mutter in Erziehungsfragen anderer Meinung, wenn schon nicht mit den eigenen Eltern, dann höchstwahrscheinlich mit den Schwiegereltern. Dahinter verbirgt sich ein Generationsproblem. Jede Generation ist einer anderen Realität ausgesetzt und muss eigene Lösungen finden, gerade in einem Land wie China, in dem die Lebenswelten der Familien sich rasant verändern. Junge und ältere Chinesen haben häufig einen ganz anderen Wissensstand und andere Erfahrungswerte, die sich bei der Kinderbetreuung nicht einfach zusammenfügen lassen. Folglich gibt es gute Gründe, sich gegen die Kinderbetreuung durch die Großeltern zu entscheiden, und, wie Guo Xin es nahelegt, den sicher drohenden Konflikt mit der eigenen Familie zu meiden. Nur: Das ist alles andere als einfach.

Auch in Deutschland gibt es die Debatte: Sind wir „Rabenmütter“, wenn wir unsere Kinder allzu früh und allzu lange „fremdbetreuen“ lassen? Diesen Konflikt spüren auch viele chinesische Mütter. Neben dem gesellschaftlichen Druck kommt für sie das krasse Unterangebot an Kinderbetreuung hinzu. Wie schwer es ist, einen Betreuungsplatz für unter dreijährige Kinder zu finden, lässt sich in den Berichten engagierter Eltern in Shanghai oder Peking vielfach nachlesen (siehe Sixthtone-Artikel). Doch selbst wer einen Platz bekommt, kann sich fragen: Wird hier das Leben berufstätiger Mütter überhaupt erleichtert? Denn ähnlich wie später die Schulen, nehmen solche Betreuungseinrichtungen in Chinas großen Städten die Eltern zusätzlich in die Pflicht.

Was wir frühkindliche Erziehung nennen, heißt im Chinesischen „zao jiao“, was am ehesten dem Englischen Begriff der „early education“ entspricht. „Zao“ heißt „früh“ und „jiao“ „lehren“ oder „unterrichten“.  Es geht also gar nicht allein um Erziehung und schon gar nicht nur um Betreuung, sondern auch schon um das Lehren. Und dafür stehen Eltern mit in der Pflicht.

Viele solcher Einrichtungen verlangen bereits vor dem ersten Gespräch mit den Eltern, dass diese ein teures und zeitintensives Seminar bei ihnen besuchen, in dem sie lernen sollen, nach welchen pädagogischen Maßstäben die Einrichtung vorgeht, und wie sich die Eltern dem Kind gegenüber zu verhalten haben. Nichts garantiert indes, dass nach der Teilnahme an dem Seminar das Kind einen Platz bekommt, aber ohne Seminar gibt es garantiert keinen Platz.

Auch werden bei der „Bewerbung“ auf einen solchen Betreuungsplatz mitunter Nachweise über besondere Erfolge (im Beruf) oder Verdienste (um das Vaterland) gefordert. Gelegentlich verlangt man solche Zertifikate bis in die Generation der Großeltern. Und falls das Kind den Platz bekommt, ist das Organisationstalent der Eltern erst recht gefragt. Dann heißt es genau abzustimmen, wer das Kind wann bringt und abholt, denn zumeist sind die Wege weit und die Betreuungszeiten entsprechen nicht unbedingt den Arbeitszeiten der Eltern. Oft gilt es darüber hinaus zu klären, wer während der „Betreuung“ beim Kind bleibt. Denn hierin besteht wohl der Hauptunterschied beispielsweise zu einer deutschen Kita: Unter Umständen wird erwartet, dass ein Elternteil permanent bei dem Kind bleibt. Das erklärt sich nur, wenn man das Ganze nicht als Betreuungs-, sondern als Bildungsangebot versteht. So gesehen, sind chinesische Mütter bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dann aber keinen Schritt weiter. Im Gegenteil: Die „Kita“ stellt die Dritte Herausforderung dar, die es neben Job und Haushalt zu meistern gilt.

Wohl auch deswegen gibt es in China heute mehr Frauen, die sich wünschen, zu Hause zu bleiben und sich Zeit für die eigenen Kinder zu nehmen. Doch auch die Frauen, denen das gelingt, sind einem enormen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. Die Rolle als Hausfrau und Mutter ist in China längst nicht mehr selbstverständlich. Spätestens seit Mao Zedong heißt es „Frauen tragen die Hälfte des Himmels“, und so wird erwartet, dass Frauen nach der Geburt eines Kindes in den Beruf zurückkehren. Einerseits hat diese Sichtweise den Frauen in China emanzipatorisch Vorschub geleistet, andererseits bleibt der Spagat zwischen Kind und Karriere eben ein Spagat. Das mag einer der Gründe sein, warum trotz der Lockerungen der Ein-Kind-Politik nur wenige Paare ein zweites Kind bekommen.

Gleichwohl mangelt es nicht an beeindruckenden Erfolgsbeispielen für die Vereinbarkeit von Kind und Karriere. Wer weltweit nach Milliardärinnen fragt, die ihr Vermögen selbst erwirtschaftet haben, stellt fest, dass neun von zehn dieser Frauen aus China stammen[1]. Und die sind natürlich nicht alle kinderlos. Die 42-jährige Didi-Chefin Liu Qing zum Beispiel hat neben ihrer erstaunlichen Karriere gleich drei Kinder. Und wer nun denkt, bei dem Vermögen sei das kein Kunststück, sollte sich klar machen: Die Betreuung der Kinder können natürlich andere übernahmen. Nicht aber Schwangerschaft und Geburt. Und den gesellschaftlichen Druck bekam auch die Didi-Chefin zu spüren: „Wenn die Kollegen noch arbeiten, eilt man zu den Kindern, und wenn die Kinder ihre Mutter brauchen, ist man schon wieder bei der Arbeit. Beiden Seiten gegenüber fühlt man sich permanent schuldig“, wird Liu Qing in einem chinesischen Artikel zitiert.

Info:

Den Artikel „Chinese Mothering: From one Generation to the Next” gibt es hier: https://www.sixthtone.com/news/1009219/chinese-mothering,-from-one-generation-to-the-next Und hier der Artikel über Ängste der Mütter in Shanghai, den Druck auf Eltern und den richtigen Kindergarten: https://www.sixthtone.com/news/1005776/the-ups-and-downs-of-inte<nsive-motherhood-in-shanghai

Hier ein guter chinesischer Artikel einer Soziologin über frühkindliche Erziehung in China: https://mp.weixin.qq.com/s/jvAKxesohy0htaB2cabGdw


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