WISSENSCHAFT I Selbstzweifelnde Sinologen

Imke Vidal berichtet von der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS), die am 19./20. November in Freiburg unter dem Motto „Wissensasymmetrien- China als Akteur und Objekt (globaler) Debatten“ stattfand.

Das Thema „Wissensasymmetrien“ leuchtete sofort ein. Jeder Chinese, so scheint es, kennt Shakespeare, Sartre oder Goethe. Aber wer kennt hierzulande schon Lu Xun? Immerhin gehören Kinderbücher, die chinesische Legenden erzählen, heute in jede gute Kinderbuchhandlung.  Und doch wurde der klassische chinesische Roman „Die Reise in den Westen“ erst 2017 vollständig ins Deutsche übersetzt. Die ersten chinesischen Faust-Übersetzungen sind dagegen hundert Jahre alt. Es gibt sie also, die Wissensasymmetrien, und es ist höchste Zeit daran zu arbeiten. Doch in Freiburg schien es erst mal um viel grundsätzlichere Fragen zu gehen: „Was können wir (die Sinologen) tun?“ war zu hören. Von Beginn der Tagung an spielte die Unsicherheit, welche Rolle deutsche Sinologen denn heute überhaupt spielen, eine überraschend zentrale Rolle.  Auf dem Podium hörte sich das dann so an: „Was ist eigentlich Chinakompetenz und wer sie hat?“ Da drängte sich schnell die Frage auf: Was ist los mit der deutschen Sinologie? Steckt sie in einer Sinnkrise? Dabei müsste es doch ein goldenes Zeitalter für Sinologen sein. Sinologen, als Chinakenner- und Erklärer, müssten als viel gefragte Teilnehmer in jeder weltpolitischen Debatte vertreten sein. Sie müssten China erklären, so wie heute Virologen oder Kommunikationspsychologen auftreten, die uns erklären, was im Rahmen einer Pandemie medizinisch sinnvoll und kommunikationstechnisch zumutbar ist. In Freiburg aber wurde erklärt, warum das alles nicht geschieht.  Mindestens zwei Gründe traten hervor:  Erstens fragt niemand nach Sinologen, und zweitens fühlt sich nicht jeder Sinologe berufen, in der öffentlichen Debatte mitzumischen oder gar Politik und Wirtschaft zu beraten. Es schien in Freiburg manchmal so, als wäre den deutschen Sinologen allzu sehr bewusst, wo die eigene Chinakompetenz endet. Nämlich nach dem eigenen Verständnis oft da, wo der eigene Forschungsschwerpunkt endet.  Da wiegt es dann schwer, wenn sich ein nicht geringer Teil der sinologischen Forschung in Deutschland mit dem „alten China“ beschäftigt.  Also mit Fragestellungen, die scheinbar wenig relevant für die aktuellen, öffentliche Debatten sind.  Und doch:  Glaubte man in Freiburg wirklich das „alte China“ sei irrelevant? Wollte man glauben machen, Sinologen verstünden weniger von China als die vielen, die heute in Politik und Wirtschaft täglich mit China zu tun haben, aber Land und Kultur kaum kennen?  Weitere Fragen tauchten in Freiburg auf: Warum zieht man selbst solche Sinologen, die sich mit aktuellen Fragen beschäftigen, so selten öffentlich zu Rate? Möglicherweise liegt es daran, dass viele, die täglich mit China zu tun haben, sich gar nicht bewusst sind, wo es ihnen an Chinakompetenz fehlt. Zumindest solange die Geschäfte gut laufen. Aber was, wenn nicht? Ist darauf irgendwer wirklich vorbereitet? Vielleicht – dieser Gedanke schwang in Freiburg stets mit – muss die Sinologie sich hier neu ausrichten. Vielleicht müssen deutsche Sinologen heute ganz anders auf die Realität vorbereiten, in den sinologischen Studiengängen ganz neue Schwerpunkte setzen. Dabei war man sich in Freiburg bewusst, wie hauchdünn die Grenze zwischen Kennen und Verstehen ist. Als „Chinaversteher“ zu gelten, birgt durchaus seine Tücken. Darum diskutierten Marc Matten (Erlangen-Nürnberg), Maximilian Mayer (Bonn), Barbara Mittler (Heidelberg) und Marina Rudyak (Heidelberg) das Thema: „Professionelle China-Versteher zwischen allen Stühlen? Die Sinologie im Spannungsfeld von Politik, Moral und öffentlicher Erwartungshaltung“. Marina Rudyak räumte mit dem Missverständnis auf, dass es für Sinologen hellseherische Fähigkeiten brauche, um Politik und Wirtschaft erfolgreich zu beraten. Letztlich sei es nicht der Chinaexperte, der politische Entscheidungen trifft. Dies täten Manager und Politiker, die sich beraten lassen. Als Sinologe, so Rudyak, könne man aber kontextualisieren. Es geht also weniger darum präzise vorherzusagen, was Xi Jinping oder die chinesische Partnerfirma übermorgen tut, als vielmehr zu verstehen, wie politisches und unternehmerisches Handeln in China entsteht. Wichtig für die Entscheider ist eben auch zu wissen, mit welchen Rahmenbedingungen wir es in China heute zu tun haben und wie politische und wirtschaftliche Praktiken in China historisch gewachsen sind. Auf ganz andere Weise zeigte Barbara Mittler, wie die Sinologie sich einbringen kann. Zum Beispiel im Schulunterricht, in dem es deutschlandweit an Lerninhalten mit Chinabezug fehlt. Sei es Geschichte oder Erdkunde:  Der große geographische Raum Chinas (einschließlich Hongkong und Taiwan) wird weitestgehend vernachlässigt, mancherorts gar ausgelassen. Dennoch machte Barbara Mittlers Vortrag Mut. Das Problem scheint erkannt und die Lösung gar nicht kompliziert. Bisher, so Mittler, dienen oft Zeitungsartikel als Quellen in deutschen Schulbüchern. Themen werden einseitig behandelt, da nur wenige Stimmen aus China zu Wort kommen. Hier können Sinologen sinnvoll ansetzen. Sie können umfangreiche Quellensammlungen erstellen oder chinesische Quellen übersetzen, so dass Lehrer bei der Unterrichtsvorbereitung schnell und einfach zu Chinathemen fündig werden. Dabei, so Mittler, komme es aber letztlich auf eine stabile Finanzierung an. Solche Maßnahmen können nur dann nachhaltig wirksam sein, wenn sie dauerhaft zur Praxis werden. Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien bedürfen ständiger Überarbeitung, um nicht von der Aktualität überholt zu werden. Folgt man Mittler, können sich hier auch Sinologen einbringen, die sich mit chinesischer Philosophie oder dem „alten China“ beschäftigen. In allen Bereichen kann sinologischer Input zu Chinathemen den deutschen Schulen nur guttun. Auch schon vor der Schule, in den Kitas und Kindergärten, wie immerhin in einem Nebensatz erwähnt wurde. Es wäre hier die Gelegenheit gewesen, auf das eigentliche Thema in Freiburg, die Wissensasymmetrien etwa schon bei Kindern, zurückzukommen. Doch das war an dieser Stelle wohl zu viel verlangt. Denn so kreativ und vorausschauend Beiträge wie die von Rudyak und Mittler waren, sie blieben die Ausnahme. Lieber verständigen sich deutsche Sinologen heute über die Krise ihrer Wissenschaft. Statt selbst anzupacken, fragen sie lieber: Was können wir tun? Vielleicht gibt es sie tatsächlich, die Krise in der Sinologie.

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