MEINUNGSMACHER I Fabian Kretschmer, Korrespondent für taz und andere

Fabian Kretschmer (35) wohnt und arbeitet im zehnten Stock mit Blick auf das Arbeiterstadion und Sanlitun, das alte Vergnügungsviertel Beijings. Doch, wenn sich dort unten abends die jungen Chinesen amüsieren, muss er meist arbeiten. „Zwischen 18 und 21 Uhr ist meine hektischste Zeit, manchmal geht sie auch bis Mitternacht.“ Zu der Zeit kommen die Aufträge aus den deutschen Redaktionsstuben bei ihm an, die er möglichst schnell erledigen muss. Seit fast zwei Jahren produziert er Artikel für Artikel. Er hatte keinen Urlaub und kein freies Wochenende. Seit die Reisebeschränkungen im Oktober wieder verstärkt wurden, kann er kaum raus aus Beijing. Und er kann erst recht nicht nach Deutschland, um mal wieder seine Eltern und Freunde zu besuchen. Kretschmer stammt aus Berlin. Er wollte nach dem Abitur Publizistik studieren, aber vielerorts herrschte für dieses Fach ein Numerus Clausus – auch an der nahen FU. Deshalb ging er nach Wien als „NC-Flüchtling“, wie es dort hieß. Während des Studiums verbrachte er 2009 ein halbes Jahr an der Fudan Universität in Shanghai. Das war seine erste Annäherung an Asien und China. „Und die war prägend“, sagt Kretschmer. In Shanghai fing er an, erste Artikel zu schreiben. Die Wiener Tageszeitung „Der Standard“ engagierte ihn als freien Mitarbeiter, und stellte ihn nach dem Studium als Pauschalisten ein. Dann hörte er von einem Stipendium in Korea, bewarb sich und bekam es. Aus Korea schrieb er weiterhin journalistische Texte. Eine Reportage über eine geflohene Nordkoreanerin, die im „Tagesspiegel“ erschienen ist, wurde zufällig von einer Lektorin des Rowohlt Verlages gelesen. „Das wäre doch Stoff für ein Buch“, schlug sie vor, und er schlug zu. Mit dem Vorschuss ist er dann wieder zurück nach Korea. Für ein halbes Jahr, so war seine Planung. Doch es wurden letztlich fünf Jahre – von 2014 bis 2019. „Die ersten Jahre waren nicht einfach. Ich habe gelebt wie ein Student“, sagt Kretschmer. Korea, obwohl in viele Bereichen vorbildlich (Digitalisierung zum Beispiel), stieß bei deutschen Medien auf wenig Interesse. Immerhin: Die taz beschäftigte ihn als freien Mitarbeiter. Dadurch lernte er auch Felix Lee kennen, damals taz-Korrespondent in Beijing. Und Lee verriet ihm, dass er nach Deutschland zurückehren werde, und ob er denn nicht sein Nachfolger werden wolle. 2019 wechselte Kretschmer von Seoul nach Beijing. Er schreibt nicht nur für die taz, sondern für die Wiener „Die Presse“ (für die hat er auch die Akkreditierung). Außerdem hat er – so der journalistische Jargon – einen umfangreichen „Bauchladen“. Kretschmer erreicht damit mehr lesendes Publikum als die Korrespondenten der großen deutschen Blätter. Ihnen gegenüber ist er aber im Nachteil. Diese haben oft Assistenten, er dagegen ist Einzelkämpfer. Er träumt: „Ich würde auch gerne mal eine Woche lang an einer Reportage sitzen.“ Aber er muss Zeilen produzieren, denn er bekommt kein festes Gehalt, sondern Zeilenhonorar. Im Moment sei die Nachfrage nach Texten riesig, sagt er. Gerne würde er mehr durchs Land reisen, vor Ort recherchieren. Er klagt: „Seit der Pandemie ist es insbesondere in den Provinzen mühsam geworden, als ausländischer Journalist zu reisen. Oft weisen mich die Hotels in letzter Sekunde ab, oder am nächsten Morgen wartet bereits die Sicherheitspolizei in der Lobby“. Man komme sich in dem Land vor wie ein Fremdkörper. „Da staut sich Frust an“, gibt er zu. Die Pandemie sei eine Zäsur gewesen. China sei verschlossener geworden, richte sich mehr nach innen. „Die Neugierde der Chinesen gegenüber Ausländern, die früher da war, ist komplett weg.“ Viele wendeten sich auch enttäuscht vom Westen ab. Trotzdem bekennt er: „Für Journalisten gibt es keinen reizvolleren Ort.“ Er sagt diesen Satz gegen 16.30 Uhr Ortszeit, kurz vor Beginn eines mal wieder langen Arbeitstages.

Info:

Die Homepage von Fabian Kretschmer lautet: http://fabian-kretschmer.com/

Die Artikel von Fabian Kretschmer in der taz gibt es hier: https://taz.de/Fabian-Kretschmer/!a22577/

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