Der britische Historiker Christopher Clark hat vor sechs Jahren das Buch „Die Schlafwandler“ geschrieben. Darin beschreibt er, wie die damaligen Großmächte in den Ersten Weltkrieg förmlich hineinschlidderten. Diese Schlafwandler-These hat der amerikanische Politikwissenschaftler Joseph S. Nye (84) in einem aufrüttelnden Aufsatz nun aufgegriffen und auf die heutige Zeit projiziert. In seinem Project-Syndicate-Beitrag „Das China-Schlafwandler-Syndrom“ schreibt er, viele würden die aktuelle Auseinandersetzung zwischen China und den USA als einen neuen Kalten Krieg bezeichnen. Aber: „Ein viel beunruhigenderes historisches Vorbild bietet jedoch der Vorabend des Ersten Weltkriegs. 1914 erwarteten alle Großmächte einen kurzen dritten Balkankrieg.“ Wir alle wissen: Es wurde ein mörderischer jahrelanger Weltkrieg. Der Balkan liegt heute in Fernost – im Südchinesischen Meer und auf Taiwan. Dort treffen China und die USA aufeinander. Schliddern die beiden Großmächte – wie 1914 – in einen Krieg hinein, den sie eigentlich nicht wollen oder zumindest für begrenzbar halten? Nye sieht Parallelen. Zum Beispiel die Zunahme des Nationalismus oder – in seiner milderen Version – des Chauvinismus. Außerdem werde heute wie damals der Friede nicht mehr ausreichend gewürdigt. Wer Nyes Artikel liest, kann nur hoffen, dass jemand die Schlafwandler in Washington und Beijing aufweckt. Aber wer? Die EU? Die schlafwandelt ja zusehends mit.
Info: Joseph Nye: https://www.project-syndicate.org/commentary/sleepwalking-to-war-with-china-by-joseph-s-nye-2021-10/german