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Herr Alpermann, warum dieses Buch?
Alpermann: Xinjiang und die Uiguren sind ein Thema, das in den vergangenen Jahren medial sehr viel Aufmerksamkeit erzeugt hat. Die Medien berichten zum großen Teil sehr gut, hintergründig und auch nicht oberflächlich. Sie können aber nicht so in die Tiefe gehen wie ein Wissenschaftler. Ich hatte deshalb den Eindruck, dass ein Informationsdefizit besteht, und ich wollte diese Lücke füllen.
Wie schreibt man ein Buch über eine Region, die man gar nicht besuchen kann, und deshalb nur auf Quellenstudium angewiesen ist?
Alpermann Mit dem Problem der Wahrheitsfindung habe ich mich beim Schreiben permanent herumgeschlagen. Ich kann nur untersuchen, aus welchen Quellen stammen die Infos und wie verlässlich sind die Quellen. Wenn es mehrere Quellen gibt, die eine Aussage oder Interpretation stützen, dann gewinnt die Information an Vertrauenswürdigkeit. Das ist zum Beispiel bei den Internierungslagern der Fall. Da haben wir Augenzeugenberichte, Satellitenaufnahmen, aber auch veröffentlichte chinesische Daten und durchgestochene Dokumente. Dadurch haben wir bei den Lagern relativ umfangreiche Erkenntnisse. Daneben gibt es aber auch andere Aspekte, die weniger belegbar sind. Ich nenne deshalb in meinem Buch diese Erkenntnislücken.
Die Zahl der Personen in den Lagern schwankt deutlich. Mal sind es eine Million, mal 1,8 Millionen. Wie seriös können solche Zahlen sein?
Alpermann Es gibt einfach keine objektiv belastbaren Zahlen von offizieller Seite. Das Einzige, was wir haben, sind Hochrechnungen, die auf indirekten Indikatoren beruhen. Die eine Million beruht auf einer Schätzung von Adrian Zenz auf der Basis der neu gebauten Lager. Die 1,8 Millionen wurden über Essenssubventionen ermittelt. Über die Zahl der Mahlzeiten versuchte man so die Zahl der Inhaftierten zu schätzen.
Der Rechercheur Adrian Zenz ist ja der Kronzeuge der westlichen Anklage. Gleichzeitig ist er wegen seiner klerikalen Ansichten und Finanzierung durch rechte amerikanische Organisationen umstritten. Wie glaubwürdig ist so eine Person?
Alpermann Ich schaue mir nicht an, woher die Leute ihr Geld beziehen und welche Interessen sie haben. Das kann man auf einer anderen Ebene untersuchen. Ich überprüfe die Berichte immer kritisch, egal von welcher Seite sie kommen, ob von Akademikern wie Zenz oder Menschenrechtsorganisationen. Ich distanziere mich von manchen Interpretationen.
Distanzieren Sie sich auch vom Begriff des Genozids, des Völkermordes, den inzwischen viele Politiker und einige Wissenschaftler erheben?
Alpermann Ja, für die juristische Definition von Genozid fehlt der Nachweis eine Absucht, die Uiguren als eine Gruppe zu zerstören. Ich schreibe in meinem Buch von einem kulturellen Genozid, was allerdings kein rechtlicher Begriff ist. Man weckt aber den falschen Eindruck, wenn man im Zusammenhang mit den Uiguren von Völkermord oder Genozid spricht, der landläufig Massentötungen impliziert. Aber es gibt niemanden, der sagt, in Xinjiang passieren Massentötungen. Ich halte es politisch sogar für einen Fehler, sich auf das Genozid-Merkmal zu kaprizieren. Damit macht man es der chinesischen Gegenpropaganda schlicht zu einfach, denn sie kann die These von Massentötungen leicht widerlegen und damit die anderen Anschuldigungen ebenfalls als unglaubwürdig darstellen.
Nun reisen ja immer mal wieder ausländische Beobachter nach Xinjiang und berichten, dass alles nicht so schlimm sei, dass Medien, Politiker und Wissenschaftler im Westen die Lage in Xinjiang überdramatisieren.
Alpermann Augenzeugenberichte sind per se nicht verlässlicher als andere Daten. Diese Berichte erinnern mich sehr stark an die Trips in der Kulturrevolution, wo Westler begeistert aus China zurückgekommen sind und erzählten, wie toll das alles unter Mao ist. China hat Erfahrung darin, westlichen Besuchern potemkinsche Dörfer vorzuzeigen. Auf der anderen Seite kommen ja Journalisten wieder rein nach Xinjiang. Die berichten von ganz anderen Erfahrungen.
Würden Sie nach Corona gerne mal nach Xinjiang reisen?
Alpermann Im Prinzip ja, aber ich weiß nicht, wie die Behörden auf mein Buch reagieren. Vielleicht haben sie mich gar nicht auf ihrem Radar. Oder – gut vorstellbar – sie registrieren mein Buch und verweigern mir die Einreise. Aber vielleicht denken sie auch, sie könnten mich nach einer geführten Tour konvertieren.