WIRTSCHAFT I Wird China sozialistisch?

China ist eine der ungerechtesten großen Gesellschaften der Welt. Nur die USA sind noch ungerechter. Aber dort gehört die Kluft zwischen Reich und Arm zum (kapitalistischen) Geschäftsmodell. Doch in China herrschen Kommunisten. Warum sehen diese über die große soziale Kluft im Lande hinweg? Das habe ich mich immer wieder gefragt, wenn ich mal wieder einen protzigen Neureichen in seinem FerrariPorscheMaserati sah, der gerade an einem schwitzenden Radfahrer vorbeirauschte, der mit seinem Lastenfahrrad fast turmhohes Altpapier transportierte. Oder wenn ich vor einem dieser vielen gigantischen Gucci-Läden stand, wo ein Handtäschchen so viel kostet wie mehrere Jahreseinkommen eines Delivery Man, der gerade mit seinem Elektroroller auf dem Weg zu seinen nächsten Kunden hektisch vorbeihuschte. Es war der große Reformator Deng Xiaoping, der schon sehr früh sagte: „Ein Teil soll erst reich werden.“ Denn davon würde ja die ganze Gesellschaft profitieren. Was zum Teil ja auch stimmte. China hat in den vergangenen Jahrzehnten ein unvorstellbares Wirtschaftswachstum erzielt – dank dieser reichen privaten Unternehmer. Die Kehrseite der Erfolgsmedaille: Der Gini-Koeffizient, die Maßeinheit für eine gerechte Gesellschaft, ist einer der schlechtesten der Welt. Nach Zahlen der Credit Suisse halten ein Prozent der Chinesen 30,6 Prozent des nationalen Vermögens. 5,28 Millionäre – wohlgemerkt Dollar-Millionäre – zählt das Land. Dagegen leben rund 600 Millionen Chinesen von lediglich 1000 Yuan (130 Euro) im Monat. Ist das der Sozialismus chinesischer Prägung, von dem Chinas Führung immer redet? Oder doch eher ein Kapitalismus chinesischer Prägung?  Oder anders gefragt: Wieviel soziale Ungerechtigkeit will die kommunistische Führung des Landes noch zulassen?

Die Antwort erfolgte am 17. August bei der Sitzung des Central Committee for Finance and Economic Affairs. Vorsitzender: Xi Jinping. Am Schluss gab es ein Kommuniqué: „We can allow some people to get rich first…but we must also do our best to establish a “scientific” public policy system that allows for fairer income distribution.”  Chinas Führung will also endlich das Verteilungsproblem angehen. Nicht im Sinne einer kommunistischen Gleichmacherei, sondern eher einer sozialdemokratischen Umverteilungspolitik. Die chinesische Einkommenspyramide soll die Form einer Olive annehmen – oben wenige Reiche, unten wenige Arme und dazwischen einen starken, bauchigen Mittelstand. Das neue Schlagwort heißt gòngtóng fùyù, auf Englisch: common prosperity, auf Deutsch: gemeinsamer Wohlstand. Der Begriff ist vage. Die Maßnahmen, um den gemeinsamen Wohlstand zu erreichen, sind es ebenso. Aber China wird wohl Instrumente anwenden, die nicht so viel anders sind als im Westen, nämlich Transferzahlungen und Steuern. China wird das Sozialsystem, das noch sehr rudimentär ist, weiter ausbauen müssen. Keine leichte und auch keine billige Aufgabe bei 1,4 Milliarden Menschen. Zudem bedarf das Steuersystem einer Reform. Das chinesische Steuersystem basiert zu stark auf indirekten Steuern, das sind Umsatz- und Verbrauchssteuern. Diese Steuern gelten als sozial ungerecht, weil sie nicht nach Einkommen differenzieren. In China beträgt das Verhältnis indirekter zu direkten Steuern 3:7, in Deutschland hingegen haben die direkten Steuern ein leichtes Übergewicht. China wird wohl direkte Steuern erhöhen oder einführen. Die Rede ist von Erbschafts- und Vermögenssteuern. Neben Transferzahlungen und Steuern wird noch eine dritte Umverteilung angestrebt: Reiche Individuen und gewinnstarke Unternehmen sollen an die Gesellschaft zurückgeben. Im Westen würde man Charity dazu sagen. Der Staat wird den Unternehmen Druck machen. Eines von ihnen hat schon verstanden. Internetkonzern Tencent verkündete einen Tag nach der Sitzung des Zentralkomitees, dass er einen Common-Prosperity-Fund über 50 Milliarden Yuan (6,5 Milliarden Euro) auflegen werde. Weitere Unternehmen werden sicher folgen.

No Comments Yet

Comments are closed