GESELLSCHAFT I Flachliegen

Kurz vor der Pandemie hielt ich mich mehrere Monate in Shenzhen auf. Im Stadtteil Nanshan dieser Metropole gegenüber Hongkong herrscht eine der größten Dichten an Tech-Unternehmen auf engstem Raum. Große Konzerne wie Tencent oder DJI haben hier ihren Sitz, das Internetunternehmen Baidu – eigentlich in Beijing zuhause – hat hier zwei große Bürotürme. Und dazwischen gibt es jede Menge Startups, Co-Working-Stations, Inkubatoren und Akzeleratoren. Als ich mich anfangs gegen spätabends dort herumtrieb, wunderte ich mich über die vielen Menschenschlangen, die vor den Bürogebäuden geduldig auf die stetig heranrasenden Taxis warteten. Das habe ich nicht verstanden, bis mich schnell jemand aufklärte: Diese Wartenden fahren nach getaner Arbeit nachhause. Besonders in der High-Tech-Welt sind solch lange Arbeitszeiten an der Tagesordnung. Die Chinesen sprechen von der 996-Kultur: Von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends arbeiten – und das an sechs Tagen die Woche. Witzbolde brachten sogar eine andere Zahlenkombination in die Diskussion: 007 – von 0 bis 0 Uhr, also rund um die Uhr, an allen sieben Tagen der Woche. Aber zunehmend regt sich Widerstand gegen diese moderne Ausbeutung, vor allem in der Generation Z (das sind die zwischen 1995 und 2003 Geborenen). Viele junge Paare sind frustriert, dass sie sich trotz dieser Maloche keine Wohnung, kein Kind oder gar beides leisten können. Die Bewegung der Frustrierten hat auch schon einen Namen: tang ping. Auf deutsch: Flachliegen. Sie artikulieren ihren Unmut in den sozialen Medien oder stimmen mit den Füßen ab, indem sie die großen, teuren Städte verlassen und aufs Land ziehen. Die Politik und die Behörden tun sich schwer, diese Bewegung einzuschätzen. Dort fragt man sich: Ist es mehr als nur der Ärger über hohe Preise? Entsteht hier eventuell eine konsumkritische Bewegung gerade in einer Phase, in der die Regierung auf Konsum und Wachstum angewiesen ist? Drückt sich hier das neue Lebensgefühl der jungen Generation aus? Aber mit Appellen, die dazu aufrufen brav weiterzuarbeiten, wird es nicht getan sein. Manche Unternehmen reagieren bereits auf die Unzufriedenheit. Das Management des Livestream-Produzenten Kuaishou versandte gerade eine Mail an seine Mitarbeiter, in der es ankündigte, dass künftig sonntags nicht mehr gearbeitet werden muss (Kuaishou hatte bislang ein Programm namens „big & small weeks“, nach dem jeder zweite Sonntag ein Arbeitstag war). Und auch in Shenzhen tun sich seltsame Dinge. Der Internetkonzern Tencent schickte an die Mitarbeiter einiger Tochterfirmen ein Memo, wonach künftig die Wochenenden frei sind und um 18 Uhr Feierabend sein wird. Letzteres allerdings nur am Mittwoch. An den anderen Werktagen werden die Mitarbeiter weiterhin spätabends auf die Taxis warten.   

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