Jörg Wuttke (63) ist Europas Stimme in China. Es ist eine Stimme, die gehört und geschätzt wird – von Politikern in Beijing, Berlin und Brüssel, aber auch von Medien in aller Welt. Wuttke hat sich immer sehr stark im Kammerwesen engagiert. Er baute erst die deutsche Kammer in Beijing mit auf, später dann die Europäische Handelskammer, deren Präsident er nun zum zweiten Mal ist.
Sie kennen China seit über 35 Jahren. Wie schätzen Sie derzeit die Lage ein?
Sie ist sehr zwiespältig. Einerseits ist Chinas Wirtschaft auf der Überholspur. Und sie wird kräftig weiterwachsen. Das Wachstum der Weltwirtschaft wird in den nächsten Jahren maßgeblich durch China bestimmt. Anderseits ziehen sich die Chinesen zum Teil aus der Globalisierung zurück. Eine solche Abwendung habe ich so noch nie erlebt. Xi Jinping führt von der Globalisierung weg – entgegen allen Äußerungen, die er macht.
Warum macht er das?
Xis Anti-Korruptionspolitik ist auch eine Anti-Eliten-Politik. Die Elite sind Wirtschaftsführer und Intellektuelle. Und diese Elite steht für die Globalisierung. Ich habe fast den Eindruck, dass der Präsident glaubt, er fahre eine Nummer sicherer, wenn er das Land abschottet statt öffnet. Gleichzeitig sink das Ansehen Chinas. Merken sie denn nicht, dass sie sich immer mehr isolieren, immer weniger Freunde haben, immer negativer gesehen werden. Das scheint ihnen offenbar völlig egal zu sein.
Aber sie geben doch viel Geld für Imagekampagnen aus…
…aber ihr Renommee wird trotzdem nicht besser. Auch weil sie eine rigide Medienpolitik betreiben, die ihnen selbst schadet. Da gibt es übrigens eine nette Korrelation: Je weniger Korrespondenten im Lande sind, je mehr von ihnen sie de facto rausschmeißen, desto schlechter ist das Image im Ausland.
Besonders schlecht ist es inzwischen in Deutschland…
Vor 10 Jahren noch sahen in Deutschland 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung China positiv. Jetzt ist es umgekehrt: 70 Prozent sind gegenüber China negativ eingestellt. Da unsere Politiker sehr stark von Umfragen beeinflusst sind, müssen sie reagieren. Es bleibt ihnen in dieser Stimmungslage gar nichts anderes übrig als China kritisch zu sehen und entsprechend zu handeln.
Deshalb die Sanktionen der EU wegen der Uiguren-Problematik?
Ja. Ich halte aber grundsätzlich nichts von Sanktionen. Sie befriedigen nur das europäische Publikum: Seht her, wir tun was! Schauen Sie sich das Beispiel Russland an. Da hat sich trotz Sanktionen nichts verändert oder gar verbessert. So wird es auch in China sein. Je mehr Druck wir auf China ausüben, desto mehr wird Xi Jinping die nationalistische Karte spielen. Er ist bei der Bevölkerung extrem populär. Das Volk wird ihm also folgen, wenn er ihm erzählen wird: Die Ausländer wollen uns Böses, wir müssen dagegenhalten. Wir sollten aufhören zu glauben, wir könnten China beeinflussen. Diese Zeiten sind vorbei.
Was bedeutet das für die Unternehmen? Mund halten und weiter Geschäfte machen?
Wir müssen uns auf das konzentrieren, was wir beeinflussen können. Das heißt vor allem, unsere Fabriken, unsere Supply Chains sauber halten und sicherstellen, dass dort keine Zwangsarbeit stattfindet. Ansonsten müssen wir versuchen im Markt zu bleiben und das Wachstum mitzumachen. Die Abhängigkeit von China wird deshalb steigen. Aber es ist völlig irreal zu glauben, dass wir auf China verzichten können. Das würde einen Verlust an Technologie, Innovationen und vor allem an Arbeitsplätzen hierzulande bedeuten.
Aber die deutsche Öffentlichkeit erwartet offenbar von den Unternehmen mehr Distanz gegenüber China. Müssen sie sich bald rechtfertigen, wenn sie in China Geschäfte machen?
Wir sind schon mittendrin in dieser Diskussion. Xinjiang ist ein game changer. Wir müssen uns jetzt permanent erklären, warum wir dort sind, und das nicht nur gegenüber den Medien und den Politikern, sondern auch gegenüber den Kapitalmärkten, also den Investoren. Es findet eine Politisierung der Wirtschaft statt. Und das wird noch zunehmen.
Unter Bundeskanzlerin Merkel hatte die deutsche Wirtschaft ja eine verständnisvolle Fürsprecherin in Sachen China. Wird sich das in der Nach-Merkel-Ära ändern?
Ich habe Frau Merkel bei ihrem ersten Besuch hier erlebt und auch bei fast allen folgenden. Sie ist hier hoch angesehen. Der ehemalige Ministerpräsident Wen Jiabao hat mir einmal gesagt, dass er von allen ausländischen Politikern Merkel am meisten schätze, weil sie immer die Wahrheit sage. Sie wird uns sicher fehlen. Aber für sie war es auch einfacher, die Kohl-Schröder-Politik gegenüber China weiterzuführen, weil diese auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung stieß. Jetzt haben wir eine ganz andere Situation, die Stimmung gegenüber China ist gekippt. Das wird unsere China-Politik bestimmen, egal ob Baerbock, Laschet oder Scholz ins Kanzleramt einziehen wird. Erschwerend kommt hinzu, dass keiner von den Dreien China-Kenntnisse hat. Da paart sich etwas Amateurhaftes mit einem schlechten Ruf des Partners.
Die unangenehmste Frage zum Schluss: Wird das zum Jahresende ausgehandelte und von Ihnen stark unterstützte europäisch-chinesische Investitionsabkommen (CAI) das Europäische Parlament passieren?
Viele meiner Freunde, auch von den NGOs, waren empört, dass ich mich da so stark exponierte. Es war schon beeindruckend zu sehen, dass ich anscheinend der Einzige war, der das gut fand. Aber schließlich haben wir das doch hingekriegt und damit auch gegenüber den Amerikanern, die massiv Druck ausgeübt haben, gezeigt, dass wir unsere eigene Stimme haben. Doch dann kam drei Monate später von den Chinesen eine Bazooka-Aktion in Form massiver Sanktionen gegenüber Parlamentariern, die uns gar nichts anderes erlaubt, als das CAI zu beerdigen. Das ist für mich persönlich extrem deprimierend.