Einmal diente ich für eine kurze Zeit unter Stefan Baron (73). Er fing gerade als Chefredakteur bei der „WirtschaftsWoche“ an, ich hörte hingegen dort auf. Unsere Wege haben sich seitdem nicht mehr gekreuzt. Physisch zumindest. Gedanklich dagegen schon. Ich verfolgte aufmerksam, wie er schon in den 90er Jahren das Thema China bei der WiWo forcierte und las später – nach seiner Zeit bei der Deutschen Bank, deren Sprecher er von 2007-2012 war, – seinen Bestseller „Die Chinesen“, den er zusammen mit seiner in China geborenen und aufgewachsenen Ehefrau Guangyan Yin-Baron verfasst hatte. Beide leben in Köln, wenn sie nicht gerade auf Reisen in China sind.
Wie kam es zu dem Buch?
Die Idee hatte ich schon länger im Kopf. Die blinde Parteinahme Europas und besonders Deutschlands für die USA und gegen China stört mich seit geraumer Zeit. Zunächst wollte ich aber etwas gegen die erschreckende Unkenntnis über China und seine geistes- sowie kulturgeschichtlichen Grundlagen tun und habe zusammen mit meiner Frau “Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht“ geschrieben. Denn diese einseitige Weltsicht beruht zu einem großen Teil auf dieser Unkenntnis. “Ami go home! – Eine Neuvermessung der Welt” baut auf diesem Buch auf, ist gewissermaßen eine Fortsetzung davon. Es leuchtet im Detail aus, was wir dort in einem Kapitel über “China und die Welt” nur relativ kurz betrachten konnten: das große geopolitische Thema unserer Zeit und dieses Jahrhunderts, den (Wieder-) Aufstieg Chinas zur Weltmacht und den (relativen) Abstieg Amerikas – und was das für Europa bedeutet.
Warum dieser provokante Titel?
Ein Buchtitel muss möglichst neugierig machen. Und er sollte die Stoßrichtung des Autors widerspiegeln. Beides tut “Ami go home! “. Der Titel steht für die zentrale These des Buches, die da heißt: Europa muss sich von Amerika emanzipieren. Das bedeutet ja nicht, dass es sich von den USA völlig lossagen soll, sondern dass es strategische Autonomie oder Souveränität erlangen muss und Amerika nicht mehr bei seiner imperialen Politik folgen darf, die Welt, notfalls auch mit Gewalt, in seinem Sinne und nach seinem Vorbild gestalten zu wollen. Die USA müssen auf friedlichem Wege dazu gebracht werden, die Macht in der Welt mit anderen zu teilen ehe es darüber womöglich zum Krieg kommt. Und diese Aufgabe obliegt vor allem Europa.
Aber der Titel klingt sehr anti-amerikanisch. Bislang sind Sie nicht als Anti-Amerikaner auffällig geworden!
Ich bin ja auch kein Anti-Amerikaner. Ganz im Gegenteil. Ich betrachte mich seit meiner Jugend als Freund Amerikas. Ich bin in der Pfalz groß geworden, mit amerikanischen Soldaten aufgewachsen und habe bis heute eine enge, auch persönliche Bindung mit Amerika. Ich kritisiere ja auch nicht die Amerikaner, sondern die Geopolitik der Regierung in Washington.
Sie attackieren die Amerikaner in dem Buch ziemlich heftig, werfen ihnen unter anderem Doppelmoral vor.
Ich attackiere nicht die Amerikaner, sondern die politischen Eliten des Landes. Und darin weiß ich mich mit unzähligen US-Bürgern eins. Die Doppelmoral Washingtons in der Geopolitik ist doch auch eklatant. Die Regierung dort wirft anderen Staaten ständig vor, Werte wie Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung zu verletzen und tut dies selbst am laufenden Band. Sie verfolgt eine imperiale, um nicht zu sagen imperialistische Politik. Sie fordert zu einer regelbasierten Politik auf, aber nur auf der Basis von Regeln, die sie selbst gemacht hat. Das ist nicht nur Doppelmoral, das ist Arroganz.
Und von diesem bösen Amerika sollen wir Europäer uns emanzipieren, fordern sie. Müssen wir uns also entscheiden zwischen den USA und China?
Nein, das ist eine völlig unsinnige Alternative. Man kann doch nicht für die Emanzipation plädieren und sich dann in die Arme eines anderen werfen. Noch dazu in die einer Nation mit einer völlig anderen Kultur. Nein, Europa muss seinen eigenen Weg gehen, autonom nach seinen ureigenen Interessen handeln. Das kann einmal heißen, den Schulterschluss mit den USA zu suchen und ein anderes Mal mit China. Entscheidend ist, dass dies jeweils auf Augenhöhe passiert. Für uns Deutsche heißt das übrigens, dass wir uns zwischen Amerika und Frankreich entscheiden müssen, nicht zwischen Amerika und China. Die wahre Alternative vor der wir stehen heißt: Entweder im Schlepptau von Amerika in einen neuen Kalten Krieg gegen China zu ziehen mit all den schlimmen Folgen, die das nicht nur für unseren Wohlstand mit sich bringen würde oder Seite an Seite mit unserem Nachbarn Frankreich für die strategische Autonomie und stärkere Integration Europas – etwa durch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft anstelle der NATO.
Aber wie realistisch ist das?
Es ist zweifelhaft, ob Europa die Kraft zu einer Emanzipation von Amerika hat. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der in diese Richtung denkt, steht bisher ziemlich allein da. Von der EU-Kommission ist in dieser Beziehung jedenfalls nicht viel zu erwarten. Deren Präsidentin Ursula von der Leyen ist eine eingefleischte Transatlantikerin.
Und sehen Sie in Deutschland Politiker, die Macron bei seinem Emanzipationskurs unterstützen?
Bisher sind das nur vereinzelte Stimmen. Die meisten Politiker hierzulande stehen im transatlantischen Lager. Bei CDU/CSU und FDP dominieren seit jeher die Transatlantiker. Die einst friedensbewegten Grünen vertreten auf dem Weg zu den Fleischtöpfen der Macht in der Außenpolitik inzwischen überwiegend einen Menschenrechtsbellizismus, der besonders gut mit der derzeitigen Biden-Administration harmoniert. Am meisten Anhänger hat die emanzipatorische Linie Macrons noch in der SPD. Dort regten sich zuletzt einige Stimmen, die offenbar an die Friedens- und Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr anknüpfen wollen.
Sie fordern deshalb in Anlehnung an diese Ostpolitik eine kluge Fernostpolitik. Wie müsste diese aussehen?
Eine solche Fernostpolitik müsste auf demselben Leitmotiv beruhen wie die einstige Ostpolitik: Friedliche Koexistenz ist für alle Beteiligten besser als Konfrontation. Das heißt, man akzeptiert den Anderen in seiner Andersartigkeit solange dieser dies umgekehrt auch tut und kooperiert, wo dies möglich und nutzbringend ist. Das schließt Wettbewerb und Kritik nicht aus. Aber diese müssen auf die Überzeugungskraft des eigenen Arguments und den Vorbildcharakter des eigenen Handelns setzen, nicht auf Gewalt, Regimewechsel-Politik und Einmischung in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen. Europa muss die USA deshalb auch als Bannerträger der “westlichen Werte” in der Welt ablösen, um diese vor der endgültigen Diskreditierung zu bewahren.
Im Moment sieht es aber eher nach Konfrontation statt Kooperation aus.
Ja, leider setzt Amerika, um seine Hegemoniestellung in der Welt zu verteidigen, auf Konfrontation. Die vergangenen Tage haben dies erneut deutlich gezeigt. Siehe Präsident Bidens öffentliche Beschimpfung von Präsident Putin als “Mörder” und die offene Brüskierung Chinas bei den Gesprächen beider Länder in Alaska. Diese Politik führt nur zu einer weiteren Verhärtung der Positionen. Mir scheint, Washington will damit gezielt einen Kalten Krieg herbeiführen und so seine Verbündeten zwingen, eindeutig seine Partei zu ergreifen. Für Europa wäre dies jedoch eine Katastrophe. Es würde damit seinen Wohlstand aufs Spiel setzen, das europäische Gemeinschaftswerk gefährden und das Ansehen der „westlichen Werte” in der Welt endgültig ruinieren. Aus dem Kalten Krieg könnte sehr schnell auch ein heißer Krieg werden.