China Hands wurden im 19. Jahrhundert die wenigen Ausländer genannt, die sich in China auskannten, dessen Sprache und Kultur verstanden- oder zumindest so taten. Später wurden daraus Old China Hands, Leute mit 20 oder von mehr Jahren Erfahrung im Reich der Mitte. Es gibt aber auch zunehmend junge Leute, die sich intensiv mit China beschäftigen, die aber oft nicht zu Wort kommen. Deshalb werde ich neben Old China Hands auch Young China Hands vorstellen – auch wenn Letzteres per definitionem ein Widerspruch ist. Heute wird eine Old China Hand vorgestellt: Thomas Heberer.
Thomas Heberer ist 73, aber lehren, forschen und schreiben tut er immer noch gerne. An der Universität Duisburg-Essen hat er den Status eines Senior Professors. Er bekommt noch ein kleines Salär, hat ein Forschungsprojekt (u.a. über Sozialdisziplinierung in China) und alle Rechte eines ordentlichen Professors. Und er veröffentlicht nach wie vor Bücher (siehe Info). Auf über 60 Titel hat er es als Autor oder Co-Autor, Herausgeber oder Co-Herausgeber inzwischen gebracht.
Heberer ist einer der bedeutendsten deutschen Sinologen, dessen Stimme aber im Chor der China-Basher zu wenig gehört wird. Er ist kein Mann der schnellen, voreiligen Einschätzungen. Er kann auf ein profundes Wissen zurückgreifen. „Es gibt leider wenige, die sich historisch mit China auseinandersetzen“, kritisiert er. Dies sei aber notwendig um das heutige China zu verstehen. Zum Beispiel führe Xi Jinping häufig politische Begriffe ins Feld, die von konfuzianischen Klassikern stammten.
Dass sich Heberer mal so intensiv mit China auseinandersetzen würde, war nicht geplant. Sein Vater wollte eigentlich einen Juristen aus ihm machen. Aber nach drei Semestern Jura war ihm klar: „Das ist nichts für mich. Mein Interesse war, sich mit anderen Völkern und den Unterschieden zwischen Völkern und Kulturen zu beschäftigen.“ Er schrieb sich in Ethnologie ein. Man musste sich für einen regionalen Schwerpunkt entscheiden: Indien oder China war für ihn die Frage. „Ich habe mich für China entschieden.“ Nach Studium, Promotion und einem ersten Chinaaufenthalt 1975 sagte er sich: „Wenn ich das Land verstehen will, muss ich dort gelebt und gearbeitet haben.“ Im Juli 1977 ging er nach Beijing. Er bekam einen Job als Lektor und Übersetzer bei der Peking Rundschau. „Als ich hinkam, war China noch ein totalitärer Staat.“ Die wenigen Ausländer in chinesischen Diensten („ausländische Experten“) waren in Wohnhäusern auf dem Gelände des Freundschaftshotels in Haidian kaserniert. Private Kontakte zu Chinesen waren tabu. Die wenigen Restaurants machten um 19 Uhr zu. Für alles brauchte man Marken, es gab drei Flaschen Bier pro Woche.
Dann, 1977, wurde Deng Xiaoping rehabilitiert. Er sagte, 90 Prozent der Ausländer seien gut. Daraufhin durften auch Chinesen ins Freundschaftshotel. Es gab erste Freundschaften. Das Land wurde offener und freier. „Das war die Zeit, die mich prägte“, sagt Heberer. 1979 hat er eine Chinesin geheiratet. Es war eine der ersten Ausländerehen. Entsprechend exotisch war das Paar. „Die Leute blieben stehen und schauten uns an. Es war eine furchtbare und unangenehme Situation, vor allem für meine Frau.“
Sie entschieden nach Deutschland zu gehen. Aber wer wollte dort 1981 einen Sinologen? Heberer bewarb sich bei Medien, Volkshochschulen, in der Wirtschaft – keiner wollte ihn. „Als einzige Möglichkeit blieb die Wissenschaft“, sagt er. Ein Professor an der Uni Bremen holte ihn mit einem Forschungsauftrag der VW Stiftung an die Weser. Anfang der 90er Jahre baute er an der FH Bremen den neuen Studiengang Wirtschaftssinologie auf, womit er einer der Pioniere dieses Kombi-Studiengangs war.
Über Trier landete er schließlich 1998 an der Universität Duisburg-Essen. Das dortige Institut für Ostasienwissenschaften ist das größte seiner Art in Europa. Bis zu seiner Pensionierung 2013 hatte Heberer dort den Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Ostasien inne.
Heberer ist ein Pendler zwischen den Welten, gedanklich wie physisch. Mit Ausnahme der beiden Jahre 1989 und 2000 war er jedes Jahr ein- bis dreimal mal in China, im Schnitt jeweils drei Monate und meist zur Feldforschung in verschiedenen Regionen. Er kennt China, er versteht die Chinesen, er versucht China nicht nur durch die westliche Brille zu sehen. Und was sieht er dort? Einen Xi Jinping, der China in die Moderne führen will. Einen Staat, der traditionell eine andere Rolle spielt als hierzulande und zudem vom Volk mehrheitlich so akzeptiert wird. Und was sieht er hier?
„Eine Enttäuschung, dass China versucht einen eigenen Weg zu gehen.“ Diese Enttäuschung sei mitverantwortlich für das aktuelle China-Bild. Ihm gefällt die konfrontative Stellung zwischen dem Westen und China nicht. Sein Vorschlag ist kooperativ statt konfrontativ. Zunächst gelte es zu fragen: „Was sind unsere unterschiedlichen Interessen?“ Und dann habe der nächste Schritt zu folgen: Wie kann man die bestehenden Konflikte lösen oder mindern?
Letzte Frage an jemanden, der das Land seit 45 Jahren bereist: Wenn Ihnen damals jemand prophezeit hätte, wie China sich entwickeln würde, was hätten Sie gesagt? „Ich hätte ihn ausgelacht.“
Info:
Kang Youwei: Die Große Gemeinschaft, Eine Anleitung zum Weltfrieden, herausgegeben von Thomas Heberer, Drachenhaus Verlag, 2021;
Thomas Heberer/Gunter Schubert: Weapons of the Rich. Strategic Actions of the Private Entrepreneurs in Contemporary China, World Scientific, 2020;
Thomas Heberer/Armin Müller: Entwicklungsstaat China – Politik, Wirtschaft, sozialer Zusammenhalt und Ideologie, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2020
Thomas Heberer: Disciplining of a Society. Social Disciplining and Civilizing Processes in Contemporary China, Harvard University Press, 2020
Thomas Heberer: Ostpreußen und China, Nachzeichnung einer wundersamen Beziehung, 2020.