Wolfgang Müller (72) studierte in Göttingen Sozialwissenschaften. Nach diversen Stationen – unter anderem als Softwareentwickler bei Digital Equipment Corp. (DEC) – wechselte er 1999 zur IG Metall. Dort betreute er u.a. Siemens und Schaeffler. Außerdem baute er ein Netzwerk für Betriebsräte aus Unternehmen mit chinesischer Beteiligung auf. Nach seiner Pensionierung 2013 arbeitet Müller als Berater mit Sitz in München.
Herr Müller, Sie sind einer der wenigen in der Gewerkschaftsszene, die sich mit China beschäftigen. Wie kam es dazu?
Ich ging nach meinem Studium und mehreren Jahren als Uni-Assistent bereits 1977 nach China. Dort arbeitete ich für Radio Peking und korrigierte aus dem Chinesischen übersetzte Texte in „hörbares“ Deutsch. Das machte ich über zwei Jahre. Aus dieser Zeit habe ich viele Freunde in China, war in den Folgejahren auch viel privat in China, obwohl ich mich beruflich weg von China orientierte. Ich wurde Software-Ingenieur, arbeitete lange Zeit in der Computerbranche, unter anderem beim US-Konzern DEC. Bis 1999 der Anruf von der IG Metall Bayern kam.
Wie kamen die auf Sie?
Sie brauchten jemanden, der gewerkschaftlich engagiert war und der verstand, wie Siemens-Angestellte „ticken“. So wurde ich erst Betreuer von Siemens, wurde dort auch in den Aufsichtsrat gewählt, später auch beim Auto-Zulieferer Schaeffler und anderen Unternehmen. Und fast alle dieser Unternehmen waren in China engagiert. Ich war auf vielen ihrer China-Reisen dabei, kannte die China-Verantwortlichen bei den Unternehmen. So wurde ich schnell zum „Mister China“ bei der IG Metall.
Und wie sieht man unter den IG Metall-Mitarbeitern China?
Das Bild hat sich gewandelt. Vor rund 15 Jahren herrschte angesichts von Produktionsverlagerungen noch die Sorge vor, dass China uns Arbeitsplätze kostet. Diese Angst ist aber nun vorbei. Jetzt hat man eher die die Angst, dass China die technologische Führung übernimmt und uns abhängt. Aber generell gilt, dass China in den Gewerkschaften nicht so kritisch gesehen wird wie in den Medien oder der Politik. In den Gewerkschaften ist man viel pragmatischer als in der Politik. Es gibt dort nicht die Vorbehalte oder das China-Bashing wie etwa im grün-liberalen Milieu oder bei den Transatlantikern.
Warum diese positive Einstellung?
Fast alle deutschen Unternehmen in den wichtigen Industriebranchen Auto, Maschinenbau und Chemie haben Werke, eine Niederlassung oder ein Joint-Venture in China. Manche Betriebsräte aus Deutschland waren schon in China, haben die Tochterfirmen dort besucht, kennen also das Land etwas. China hat der deutschen Wirtschaft vor zehn Jahren aus der Finanzkrise geholfen. Jetzt scheint es in der Pandemie wieder ähnlich zu sein: China wächst und wir profitieren davon. China stabilisiert die Gewinne. Das weiß man in den Unternehmen – sowohl im Management als auch bei den Betriebsräten. Die Interessen der Arbeitnehmer und Manager sind deshalb, was China anbetrifft, oft deckungsgleich.
Also bleiben Unternehmer wie Arbeitnehmer China treu? Es wird kein Decoupling geben, wie manche in der Politik fordern?
Es gibt zwar den Trend, Lieferketten intelligenter zu machen, aber ich sehe keinen Trend, dass sich die deutsche Wirtschaft von China abkoppelt. Das ist keine Option, wenn viele deutsche Unternehmen 40 Prozent ihrer Umsätze und 50 Prozent ihres Gewinns in China machen. Warum soll man den Ast absägen, auf dem man sitzt? Ich zitiere da gerne den ehemaligen Siemens-Chef Heinrich von Pierer. Der sagte einst: „Nicht in China zu sein ist schlechter als in China zu sein.“