Jürgen Gerhards (65) ist seit 2004 Professor für Soziologie an der FU Berlin. Er ist dort Geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie. Seit 2018 ist er auch gewähltes Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“.
Warum dieser Artikel in der FAZ gerade jetzt?
Es gibt zwei Gründe. Der erste: Ich hatte vor zwei Jahren eine Gastprofessur an der Peking Universität inne. In dem Kontext habe ich mich durch intensive Lektüre, den Austausch mit Kollegen und Kolleginnen und die Erfahrungen vor Ort stärker mit China beschäftigt. Und ich muss zugeben, der unglaubliche Erfolg der chinesischen Gesellschaft hat mich fasziniert. Aber um es klar zu sagen, ich bin aus verschiedenen Gründen kein Fan dieses Systems, unter anderem weil es autokratisch organisiert ist und Minderheiten unterdrückt. Hinzu kam – und das war das zweite Motiv für den Artikel – , dass ich seit dem Sommer wirklich unzufrieden mit der Pandemiepolitik der Bundesregierung, ja mit fast allen westlichen Regierungen bin. Es ärgert mich, dass man die Sommerpause nach der ersten Welle der Pandemie nicht genutzt hat, um von der Politik der asiatischen Länder, vor allem von den demokratischen Ländern der Region zu lernen. Taiwan zum Beispiel, das ja noch vorbildlicher ist als die Volksrepublik.
Warum sind wir nicht bereit von Asien zu lernen?
Die geringe Lernfähigkeit des Westens hat wahrscheinlich mit den historisch verwurzelten Selbst- und Fremdbildern zu tun. Auf der einen Seite steht das Narrativ des liberalen, die Selbstbestimmungsrechte des Individuums schützenden Westens, während mit asiatischen Ländern kollektivistische Werte und autokratische Strukturen verbunden werden. Diese Bilder sind vor allem im Hinblick auf die demokratisch verfassten asiatischen Länder nicht mehr adäquat und verhindern den pragmatischen Blick darauf, was gute Lösungen für politische Probleme sind. Und diese gibt es in Asien ja nicht nur in Hinblick auf die Pandemiebekämpfung. Schauen Sie sich den Wissenschaftsbetrieb an. Seit 1982 – da machte ich Examen – bewegen sich Deutschlands Hochschulen in den internationalen Rankings immer nur im Mittelfeld; zugleich kann man beobachten, dass asiatische Universitäten in die Weltspitze vorgedrungen sind. Bei den wissenschaftlichen Publikationen und Zitationen zeigt sich ein ähnliches Bild. Dies wirft die Frage auf: Was machen die eigentlich anders? Diese Frage müssen wir uns hierzulande stellen. Natürlich geht es nicht darum, autokratische Elemente übernehmen; aber wir sollten die Bereitschaft haben, uns mit Erfolgsparametern aktiver auseinanderzusetzen.
Aber immerhin gibt es jetzt den Beginn einer Systemdiskussion. Warum gerade jetzt?
Die Überzeugungskraft des westlichen Modells hat in der Tat nachgelassen. Sie hat zwei Ursachen. Da ist zum einen der Erfolg des chinesischen Modells. Man muss ganz schön blind sein, wenn man den nicht sieht. Und dieses Modell wird ja offenbar zu einem Exportmodell für andere Länder. Zweitens der wachsende Selbstzweifel im Westen. Die vormals existierende Selbstgewissheit, dass liberale Demokratien stabil und nicht gefährdet sind, ist verschwunden. Wir beobachten vielerlei autokratische Bestrebungen innerhalb westlicher Gesellschaften. Wir haben in den USA unter Trump die Selbstzerlegung eines demokratischen Systems erlebt. Wollte die chinesische Regierung ihre Bevölkerung von der Dysfunktionalität von Demokratien überzeugen, dann hätte sie der Bevölkerung erlauben sollen, den Wahlkampf und die Monate nach der Wahl in den USA über FOX News oder CNN zu verfolgen.
Sie bezeichnen dieses chinesische System als eine technische Autokratie. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Autokratisch, weil es eben keine Demokratie ist und demokratische Bewegungen wie die in Hongkong mit aller Macht unterdrückt werden. Technokratisch, weil viele Entscheidungen auf der Grundlage von wissenschaftlichen und technischen Erkenntnissen effektiv und langfristig geplant und zielorientiert umgesetzt werden. Einmal definierte Probleme werden mit aller Entschiedenheit angegangen und Wucht umgesetzt. Nehmen Sie das Beispiel Luftverschmutzung in Peking. Die Regierung kam zu dem Schluß: Wir müssen da aktiv werden. Und dann wurden Maßnahmen zum Umweltschutz technokratisch-autokratisch durchgezogen.
Es wird von oben diktiert. Demokratisch ist das nicht…
Dazu muss ich einen kurzen wissenschaftlichen Exkurs einfügen: Der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf hat die Begriffe Input- und Output-Legitimität eingeführt. Unter Output versteht man diejenigen zentralen Leistungen, die ein System für seine Bürger bereitstellt, also innere und äußere Sicherheit, Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Umweltschutz. Input bezeichnet die Einbindung der Bürger in demokratische Prozesse. Ein System ist aus Sicht der Bürger dann legitim, wenn es sowohl die zentralen Leistungen erbringt, die von ihm erwartet werden als auch die Bürger über demokratische Verfahren beteiligt. Das autokratische China legitimiert sich vor allem über die Outputs des Systems, so auch in der Pandemiebekämpfung. Hinzu kommt eine sehr starke nationale Identifikation. Der Stolz vieler Chinesen auf die Entwicklung Chinas in den letzten Jahrzehnten und auf das, was das System leistet, ist schon erstaunlich. Und es gibt diesen Stolz auch unter vielen Akademikern, die nicht systemtreu sind und die die Einparteienherrschaft kritisieren.