Suzhou ist eine 10-Millionen-Stadt in der Nähe von Shanghai. Sie ist eine alte Kaiserstadt und mit ihren Kanälen ein beliebtes Touristenziel. Venedig des Ostens nennt man die Stadt deshalb oft. Vor wenigen Tagen kam Suzhou jedoch nicht wegen seiner Schönheit in die Schlagzeilen, sondern wegen eines – so kritisieren viele Einwohner – dreisten Versuchs sie zu kontrollieren und zu sanktionieren.
Am 3. September führte die Stadtverwaltung ein Sozialkreditsystem ein. Das erste in einer chinesischen Stadt. Jeder Bürger bekam 1000 Punkte. Bei Wohlverhalten, zum Beispiel durch Ableisten freiwilliger Dienste, gab es Pluspunkte. Bei Fehlverhalten, zum Beispiel im Straßenverkehr, gab es Minuspunkte. Die Einwohner rebellierten gegen das System. Auf Weibo hagelte es Kritik, so dass die Stadtverwaltung nach drei (!) Tagen den Versuch mit dem Sozialkreditsystem – vorerst – beenden mussten. Es sei nicht ausgereift gewesen, man hätte die Interessen der Bürger zu wenig berücksichtigt.
Ein sehr aktuelles Beispiel, das zeigt, dass die im Westen vorherrschende Meinung, die Chinesen würden geduldig und gehorsam die Überwachung via Gesichtserkennung oder das Sammeln ihrer persönlichen Daten über sich ergehen lassen, so nicht stimmt. Nein, es regt sich zunehmend Widerstand gegen die Bündelung und Missbrauch von Daten. Karen Ho, Redakteurin beim MIT Technology Review, recherchierte zu diesem Thema vor Ort und sprach mit vielen chinesischen Bürgern. Ihr Resümee: „The conversations are pretty similar to the ones we have in the US in that people are realizing and recognizing that their data is being used increasingly by tech giants in ways that they don`t really understand.”
In den sozialen Medien wird das Thema heftig diskutiert. Und auch die staatlichen Medien nehmen sich des Themas an. So berichten der Fernsehsender CCTV und die Nachrichtenagentur Xinhua über illegalen Handel mit persönlichen Daten, die für 0,5 Yuan pro Person verkauft werden.
Der Staat reagiert, muss reagieren angesichts des Widerstandes. Die Behörden studierten die diversen Gesetze in der Welt. Darunter die europäische Datenschutzgrundverordnung oder auch den kalifornischen Consumer Privacy Act. All diese Texte wurden ins Chinesische übersetzt.
Es gibt bereits eine Personal Information Protection Specification. Das sind nur Empfehlungen. Aber ein Gesetz ist auf dem Wege. Man darf gespannt sein, wie der Gesetzgeber das Dilemma löst, einerseits die Interessen der Bürger zu schützen, aber andererseits seine Überwachung zu legalisieren.
Info:
Der sehr aktuelle Artikel „Inside China`s unexpected quest to protect data privacy“ von Karen Ho ist in der MIT Technology Review, Ausgabe September/Oktober 2020, erschienen. Dazu gibt es auch einen Podcast: Want Consumer Privacy? Try China. Gideon Lichfield, Chefredakteur des MIT Technology Review, interviewt Karen Ho. https://www.technologyreview.com/2020/08/19/1007425/data-privacy-china-gdpr/