WIRTSCHAFT I Der Boom des Livestreaming – Von Christina Richter*

Livestreaming ist im Jahr 2020 regelrecht durch die Decke gegangen und hat sich zu DEM Marketing- und Verkaufskanal in Chinas E-Commerce-Branche entwickelt. Die Zahl der Livestreams hat in der ersten Hälfte 2020 die Zehn-Millionen-Marke überschritten. Es gibt mittlerweile 400 000 aktive Livestreamer, und 20 Millionen Produkte wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres über Livestreaming-Kanäle vermarktet. COVID-19 hat zusammen mit der Popularität des Livestreaming zu enormen Gewinnen für den E-Commerce geführt. Die Zahl der Online-Käufer ist seit 2019 um 100 Millionen gestiegen.

      Aber warum ist Livestreaming eigentlich so beliebt und erfolgreich in China?

Livestreaming im E-Commerce tauchte in China erstmals 2014 auf, als die chinesische Mode-E-Commerce-Plattform Mogujie damit zu experimentieren begann. Schon bald folgte Alibabas Taobao, die größte E-Commerce-Website der Welt. Sowohl Mogujie als auch Taobao verkauften Kleidung der unteren bis mittleren Preisklasse an junge weibliche Käuferinnen, von denen viele zwischen 18 und 23 Jahren alt waren. Angesichts der begrenzten Kaufkraft dieser Zielgruppe war der Durchschnittswert jeder Transaktion jedoch so niedrig, so dass die Steigerung der Conversion-Rates zu einer Priorität wurde.

    Beim Livestreaming probierten die sogenannten Hosts, sprich die Gastgeber der Sessions, verschiedene Kleidungsstücke an, und die Teilnehmer konnten über Live-Chat-Fenster mit ihnen interagieren. Sie konnten fragen, wie der Stoff in natürlichem Licht aussah oder sich anfühlte, und die Moderatoren bitten, bestimmte Artikel mit verschiedenen Accessoires anzuprobieren.

    In diesem Kontext spielte das Livestreaming drei wesentliche Rollen, einerseits um Unterhaltung zu bieten, aber auch um Konsumenten zu helfen, Produkte besser kennenzulernen und zu verstehen, und anderseits, um Käufe zu generieren. Denn Kunden, die sich Produkte live und in Echtzeit anschauten, hatten tatsächlich eine höhere Kaufbereitschaft. Schließlich suchen die meisten Kunden nach sofortiger „Belohnung“. Die Weiterentwicklung von Smartphones und die Etablierung mobiler Zahlungsoptionen, wie WeChat Pay und Alipay, machte dies übrigens möglich.

    In den Jahren 2018 und 2019 begann das Livestreaming richtig durchzustarten. Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs und der immer höheren Kosten für die Traffic-Akquisition wurden die Händler immer offener für den Gedanken, Livestreaming zu nutzen. Im Jahr 2018 generierte der Livestreaming-E-Commerce über 100 Milliarden RMB (12 Milliarden Euro) an Transaktionen auf Taobao, dem führenden C2C-E-Commerce-Marktplatz von Alibaba in China. Am Singles-Day 2019 wurden 20 Milliarden RMB (2,4 Milliarden Euro) durch Livestreaming erwirtschaftet, und Livestream-Stars wie Viya Huang und Austin Li erreichten Promistatus, als Millionen von Fans ihre Livestreaming-Sessions gespannt verfolgten. Über 100 000 Marken und Verkäufer nutzten Livestreaming, darunter auch internationale Marken wie M.A.C., Levi’s oder Burberry.

     Livestreaming hat sich zu einem solchen Hit entwickelt, dass mittlerweile weitere großen E-Commerce Player Chinas, sprich JD.com, Kaola und Xiaohongshu, Pläne angekündigt haben, ihre eigenen Livestreaming-Ökosysteme aufzubauen.

    All diese Aktivitäten werfen allerdings – wie es bei jedem Hype irgendwann der Fall ist – Fragen auf:  Wird Livestreaming-E-Commerce es schaffen, Mainstream zu werden oder werden die Verbraucher von der zunehmenden Häufigkeit der Livestream-Sessions eher überwältigt und abgeschreckt?

Die Corona-Krise hat in jedem Fall dazu beigetragen, Livestreaming weiter voranzutreiben. Viele Händler, die sich dem Bankrott nahe sahen, haben schnell Initiative ergriffen und sich selbst Livestreaming beigebracht.  Eines der bekanntesten Beispiele in China ist das Kosmetikunternehmen Lin Qingxuan, das vor der Coronavirus-Krise etwa 75 Prozent des Umsatzes offline generierte. Als das Virus ausbrach, musste Lin Qingxuan seine Geschäfte schließen, und die Verkäufe brachen in nur wenigen Wochen um 95 Prozent ein. Um sein Unternehmen zu retten, trat CEO Laichun Sun zum Valentinstag selbst vor die Kamera und streamte in einer zweieinhalbstündigen Live-Video-Session auf Taobao.

     Laichun Sun erklärte seinen Zuschauer ausführlich alles über seine Produkte und sein digitales Engagement hatte Erfolg: Das Unternehmen erreichte mehr als 60.000 Zuschauer und erzielte einen Umsatz von 400.000 RMB (rund 52.000 Euro) – was rund 45 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren.

       Zwar gibt es Livestreaming natürlich auch schon in anderen Ländern, allerdings wird es nirgends bislang so systematisch für den Verkauf von Produkten genutzt wie in China. Dort gibt es mittlerweile Livestreaming-Inkubatoren, die Hosts ausbilden und mit der notwendigen Ausrüstung ausstatten. Viele dieser Hosts sind bereit, mehr als 12 Stunden pro Tag Livestreaming zu betreiben, manchmal sechs Tage pro Woche, in der Hoffnung, berühmt zu werden.

      Diejenigen, die bekannt werden, müssen dafür sorgen, dass ihre Zuschauer das beste Kundenerlebnis erhalten oder sie riskieren, ihre Fan-Basis zu verlieren. Die Hosts müssen sich auch Skripte ausdenken und sich auf Fragen zur Produktqualitätskontrolle vorbereiten. Die Herausforderungen beim Livestreaming im E-Commerce ist nicht ohne, wer sich aber erfolgreich etablieren kann, für den lohnt es sich.

     Wie sieht es in anderen Ländern aus? In Korea führen Unternehmen wie LF Corp und TVON Live-Chat-Funktionen für Verkäufer zur Kommunikation mit Kunden ein. In Japan haben die Flohmarkt-App Mercari und Rakuten ebenfalls Video-Streaming-Funktionen eingeführt. Aliexpress hat schon 2017 eine Livestreaming-Funktion in Russland eingeführt, und das Alibaba-eigene Unternehmen Lazada hat Livestream-Sitzungen auf den Philippinen, in Thailand und Malaysia eingerichtet.

In den USA führte Amazon im Januar 2019 Livestream-Funktionen ein. Amazon-Verkäufer können Livestream-Sitzungen auf ihren Laden- oder Produktseiten veranstalten. Amazon veranstaltet auch seine eigenen Livestream-Sitzungen, um neue Trends aufzuzeigen. Trotz dieser deutlichen Dynamik befindet sich der Livestreaming-E-Commerce außerhalb Chinas noch im Anfangsstadium.

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*Christina Richter ist freiberufliche Personal-Branding-Spezialistin in Berlin. Zusammen mit Elena Gattin schrieb sie das Buch Digitales China, SpringerGabler, 2019, 28,99 Euro.

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