DAS ARBEITERSTADION – Ein Nachruf

Das Arbeiterstadion in Beijing gibt es nicht mehr. Es wurde dieser Tage im Alter von 61 Jahren einfach abgerissen. Ich war nur einmal drin. Es war ein Regentag im Oktober Ende der 90er Jahre. Mein erstes Fußballspiel in China überhaupt. Beijing Guoan gegen wen weiß ich nicht mehr. Ich saß oben in der Kurve. Mit mir waren ein paar tausend Zuschauer in dem Stadion, das 65 000 Menschen fasste. Trostlose Kulisse, trostloses Spiel. 

    Aber es war auch nicht das Stadion, das Gong Ti auf Chinesisch heißt, das faszinierte. Es war nur ein schmuckloser Zweckbau. Ein Hauch von Sozialismus wehte durch die zugige Sportstätte. Nein, es war die Gegend um das Gong Ti, das als Fixpunkt diente. Sie war meist mein Revier, wenn ich in Beijing war. 

   Hier wohnte ich oft im nicht weit entfernten Swissotel. Es war eines der ersten Joint-Venture-Hotels. Ist deshalb in die Jahre gekommen. Aber sie hatten gutes Brot und morgens Laugenbrötchen. Und es lag direkt an der Metrostation. 

   Rund um das Gong Ti wohnten viele Freunde. Der Spiegel hatte sein Büro (und Wohnung) um die Ecke. Mein alter Kollege Georg Blume wohnte zuletzt in der Gong Ti Xi Lu.

   Und nicht unwichtig: Sanlitun, das erste Vergnügungsviertel der Stadt, lag ein paar Straßenzüge entfernt vom Gong Ti. Kneipe an Kneipe reihte sich dort in den besten Tagen aneinander. Mädchen in kurzen Röcken promoteten Bier von Carlsberg, Heineken oder Tiger. Hier trafen sich die Expats und junge neureiche Chinesen. Manchmal wurden per Flüsterpropaganda Infos ausgetauscht: Hast Du schon gehört, um 24 Uhr tritt Rocksänger Cui Jian im JD Café oder wo auch immer auf auf.  Und dann pilgerte die Gemeinde dorthin. Ach, war das subversiv!

    Ja, Opa erzählt. Alles vorbei, alles Vergangenheit. Es gibt noch ein paar Kneipen in Sanlitun, aber sie stehen im Schatten der gigantischen Mall auf der anderen Straßenseite, wo fast alle berühmten Marken der Welt ihre Shops haben. Sanlitun hat längst seinen Charme der frühen Jahre verloren.

   Die Gegend um das Gong Ti veränderte sich radikal. Im November 2019 erwischte es auch den Bookworm. Ein toller, urgemütlicher Buchladen. Man ging vorbei an einer Polizeistation, die Treppe hoch, rechts ein Café zum Schmökern und Arbeiten, gut sortierte englischsprachige Bücher über China, jede Menge Antiquarisches. Ein wunderbarer Rückzugsort für Bibliophile.

    Bookworm weg, nun das Arbeiterstadion weg. 

    Doch eine Hoffnung auf einen Restbestand an Tradition rund ums Gong Ti habe ich noch: Dass die Rentner bleiben, die sich vor dem Stadioneingang mit ihren Vögeln herumtreiben. Fasziniert blieb ich stets stehen und schauten ihnen zu. Mit einem Rohr bliesen sie irgendwas in die Luft, die Vögel flogen hinterher, schnappten das unbekannte Etwas und flogen zurück. Ich habe nie verstanden, warum die Vögel wieder zurückkamen und nicht die kurzzeitige Freiheit ausnutzten, um abzuhauen.

   Ich hoffe, die Rentner sind bei meinem nächsten Beijing-Besuch noch da. Dann werde ich sie fragen.

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