GESELLSCHAFT I Ausgespielt – der Klavierboom ist vorbei

Fast jeder kennt Lang Lang, den weltberühmten chinesischen Klavier-Virtuosen. Und viele haben davon gehört und gelesen, wie junge Chinesinnen und Chinesen schon früh Klavierunterricht nehmen mussten, weil ihre Eltern es wünschten. Denn ein Klavier gehörte zum guten Ton der aufstrebenden Mittelklasse. Und noch wichtiger: Wer als Schüler gute Noten beim Klavierspielen vorweisen konnte, bekam Extrapunkte beim zhong kao (中考), der Prüfung beim Eintritt in die Oberstufe. Das zhong kao ist fast noch wichtiger als das viel beschriebene gao kao (高考), das dem Abitur entspricht. Doch diese Regelung mit den Extrapunkten für Klavierspieler wurde 2018 gekippt. Dadurch, aber nicht nur dadurch, sei der Klassik-Boom in China deutlich zurückgegangen, schreibt David P. Goldmann in seinem Artikel „Classical music hits an air pocket in China“ (Asia Times, 10. Mai). Mit dazu bejgetragen habe auch „a quiet revolution by young Chinese against the exhausting demands of elite education in China”. Hinzu kam die 2021 erfolgte “double reduction”-Richtlinie der Regierung, die eine Einschränkung der Hausaufgaben und der Privatstunden vorsah. Letzteres betraf auch die Klavierstunden. Gleichzeitig forderte aber die Regierung, mehr traditionelle Instrumente zu lernen. Zum Beispiel guzheng, die chinesische Zither. Davon werden aber nur rund 100 000 Stück pro Jahr verkauft. Von Pianos hingegen immerhin rund 200 000. Das ist jedoch ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren. 2019 wurden zum Beispiel noch rund 400 000 Klaviere verkauft. Parallel zu den sinkenden Verkaufszahlen ging auch die Zahl der Musikschulen und Klaviergeschäfte zurück.

Was bedeutet nun der Rückgang des Klavierspiels in China? Darüber macht sich Goldman weitreichende Gedanken. Er sieht Chinas Weg zur wissenschaftlichen und technologischen Supermacht gefährdet. Denn: „Western classical music gave the Chinese a refuge of individuality in which emotion and thought have free interplay.” Wenn dieser Freiraum eingeengt werde, leide auch die Innovationsfähigkeit. Denn laut Goldman gibt es eine Korrelation zwischen dem Beherrschen eines klassischen Instruments und intellektueller Spitzenleistung. Als Beweis für seine These nennt er vier Deutsche: Albert Einstein (ein exzellenter Violinist), Werner Heisenberg (Klavier), Max Planck (verschiedene Instrumente) und Wernher von Braun (Klavier).

Info:

Hier der Artikel von David P. Goldman in Asia Times: https://asiatimes.com/2025/05/classical-music-hits-an-air-pocket-in-china/

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