CHINAHIRN fragt…den Harvard-Sinologen Mitch Presnick

Mitch Presnick forscht derzeit am Fairbank Center für Sinologie der Harvard-Universität. Er studierte an der Peking Universität und der Rutgers Business School und verbrachte 35 Jahre als erfolgreicher Unternehmer in Beijing und Hongkong. Dort gründete er unter anderem die Super 8 Hotel-Kette, die inzwischen über 1100 Standorte hat.

Sie haben Chinas neuen Aktionsplan für die Steigerung der Verbrauchernachfrage als Zeichen für die erste große Wende der Pekinger Wirtschaftspolitik seit dem Machtantritt von Xi Jinping bezeichnet. Von welcher Wende sprechen Sie?

Verbrauch und Vertrauen sind in China zwei Seiten einer Medaille. Den Verbrauch zu steigern, bedeutet deshalb das Vertrauen zu stärken. Dabei geht es um dreierlei Vertrauen: das Vertrauen der Verbraucher, aber auch das Vertrauen der Investoren und Unternehmer. Insbesondere Investoren und Unternehmern signalisiert die Pekinger Regierung seit einem Jahr, dass sie jetzt höhere Priorität genießen. Das belegen die Aktienmärkte. Der Hongkonger China Enterprises Index, der anzeigt, wie ausländische Investoren auf die chinesische Wirtschaft blicken, ist in den letzten zwölf Monaten um 44 Prozent gestiegen. Hier ist also Vertrauen bereits zurückgekehrt. Das gilt aber auch für den chinesischen Immobilienmarkt. Zwei Drittel der chinesischen Haushaltseinkommen sind in Immobilien angelegt. Und anders als in den USA gibt es in China keinen großen Hypothekenmarkt und damit weniger Flexibilität. Die Immobilienkrise hat deshalb das Vertrauen in die chinesische Wirtschaft stark beeinträchtigt. Doch nun deutet alles darauf hin, dass der Immobilienmarkt sein Tal überwunden hat. Das bringt viel Vertrauen zurück. Insofern gibt es keine bestimmte Maßnahme der Regierung, welche eine plötzliche Wende gebracht hat. Aber seit zwölf Monaten häufen sich die positiven Trends. Parallel hat Xi Jinping in Peking große Konferenzen mit sowohl chinesischen als auch ausländischen Unternehmern abgehalten. Folglich könnten ausländische Banken und Institutionen noch in diesem Monat ihre China-Prognosen anheben. Das alles zusammen ergibt eine Wirtschaftswende, wie sie China unter Xi noch nicht erlebt hat.

Die Pekinger Regierung hat angekündigt, die Schuldenaufnahme des Staates in diesem Jahr von drei auf vier Prozent des Bruttoinlandproduktes zu erhöhen. Hat das eine besondere Bedeutung?

Damit steigert China seine Schuldenaufnahme um 25 Prozent, fraglos eine bedeutende Lockerung der Finanzpolitik. Und das vor dem Hintergrund, dass China über Jahrzehnte eine sehr konservative Finanzpolitik verfolgt hat, ganz anders als die USA. Ich hätte eine Schuldenaufnahme von 3,25 oder 3,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) erwartet. Sie haben meine Erwartungen weit übertroffen.

Der Chefökonom der ING-Bank für China, Lynn Song, sieht im Vertrauen der einzelnen Verbraucher die größte Hürde, um Nachfrage und Konsum insgesamt in China zu steigern. Stimmen Sie überein?

Ich stimme Lynn Song zu. Aber das ist zu einfach. Man könnte dann auch sagen, zu wenig Geld ist der Grund für Armut. Man muss genauer hinschauen. In China gibt es bis heute kein nationales soziales Sicherheitsnetz. Viele Chinesen auf dem Land, die Felder bewirtschaften, die ihnen der Staat einst zugesprochen hat, warten auf eine Landreform, die ihnen ermöglicht, dieses Land ihr Eigentum zu nennen, es zu verkaufen oder mit Hypotheken zu belasten. Es geht also nicht nur um ein allgemeines Vertrauen in die Wirtschaft. Man muss verstehen, warum die Leute ihr Geld nicht ausgeben und die Sparquote in China so hoch ist.

Sie sprechen schwierige Strukturreformen an. Ist es für die Regierung nicht einfacher, auf höhere Löhne zu drängen, um den Konsum anzukurbeln?

In China entspricht der Anteil der Löhne am BIP seit langem in etwa dem Anteil des Konsums am BIP. Die Abweichungen liegen nicht über fünf Prozent. Wenn man also wirklich will, dass Nachfrage und Konsum steigen, dann müssen die Löhne steigen. Das aber sehe ich bisher nicht, vielmehr überwiegt die Deflation. Das ist zwar für den Moment nicht schlecht für die chinesischen Verbraucher. Denn die Preise steigen nicht. Aber es widerspricht unseren westlichen Wirtschaftstheorien, wie China sich durch Lohnwachstum von einem Niedriglohnland zu einer Mittelstandsgesellschaft entwickeln kann. Deshalb fürchten manche eine Japanisierung der chinesischen Wirtschaft im Sinne einer anhaltenden Deflation.

Reicht es also doch nicht zu einer wirtschaftspolitischen Wende in China, die den Namen verdient?

Es braucht jetzt eine längere Zeit, in der die Leute wieder Vertrauen schöpfen, dass die Immobilienkrise vorbei ist, Unternehmer wieder ordentlich arbeiten können und die Aktienmärkte sich erholen. Noch ist das alles nicht genug, damit die Leute auf die Straße gehen und ihr Geld ausgeben. Aber die Stimmung ist nicht mehr so schlecht, wie man oft hört. Es wird schon wieder viel Geld ausgegeben, wenn auch nicht so viel wie in den Jahren von 2012 bis 2018. 

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