Am letzten Oktobertag hatte ich das Gefühl, dass mein ganzes WeChat nur noch über eine einzige Frau spricht: Zhong Huijuan, Gründerin und Chefin der Pharmagruppe Hansoh. Der Hurun-Report hatte sie gemeinsam mit ihrer Tochter zur reichsten Frau Chinas gekürt – mit einem Vermögen von rund 141 Milliarden Yuan, also knapp 18 Milliarden Euro.
Ich musste zugeben: Vorher hatte ich weder ihren Namen noch ihr Unternehmen bewusst wahrgenommen. Erst nach einigen Recherchen wurde mir klar, warum gerade sie so viel mehr Aufmerksamkeit bekam als der eigentliche Dauer-Nummer-eins-Milliardär des Landes, der „Wasserkönig“ Zhong Shanshan, dessen Vermögen mit rund 530 Milliarden Yuan in einer ganz anderen Liga spielt.
Die Begeisterung für „Frau Zhong statt Herr Zhong“ lässt sich an Schlagzeilen wie „Arzneiverkäuferin überholt Wasserverkäufer“ ablesen – auch wenn das streng genommen nicht ganz stimmt. Die Geschichte von Zhong Huijuan spiegelt den chinesischen Traum in doppelter Hinsicht wider: Sie ist die ideale „Selfmade-Unternehmerin“ – eine durchschnittlich gebildete Chinesin ohne besondere Beziehungen, die mit eigener fachlicher Kompetenz ein bedeutendes Unternehmen praktisch aus dem Nichts aufgebaut hat, und das in einer Zukunftsbranche, die zu den Schlüsselbereichen des chinesischen Staates gehört. Es ist eine perfekte Erzählung, in der persönliche Selbstverwirklichung Hand in Hand mit den Aufstiegsansprüchen des chinesischen Staates geht.
Eigentlich wurde Zhong Huijuan schon im Jahr 2020 als reichste Selfmade-Milliardärin Chinas geführt und gilt unter Brancheninsidern längst als eine der wichtigsten Unternehmerinnen der chinesischen Pharmaindustrie. Aber bis heute gibt es in der breiten Öffentlichkeit erstaunlich wenig Details über sie. Man weiß nur so viel: Sie hat an einer pädagogischen Hochschule in der Provinz Jiangsu Chemie studiert und wurde Chemielehrerin an einer Berufsschule in ihrer Heimatstadt Lianyungang, einer sogenannten Third-Tier-Stadt im relativ unterentwickelten Norden der Provinz. Sie arbeitete gern als Lehrerin – bis ihr Mann ein Abenteuer startete.
Ihr Mann Sun Piaoyang, der heute oft als „Pharmakönig Chinas“ bezeichnet wird, war damals als angestellter Forscher in der staatlichen Lianyungang Pharmaceutical Factory beschäftigt. Um die hochverschuldete Fabrik zu retten, wurde er – der Mann mit dem fachlichen Know-how – zum neuen Direktor ernannt. In den 1990er-Jahren gab es überall in China Hunderte, ja Tausende solcher staatlichen Betriebe, die kaum wettbewerbsfähig waren, aber gleichzeitig für die soziale Versorgung von Zigtausenden Beschäftigten verantwortlich blieben. Sun war ein talentierter Schüler, hatte an der führenden pharmazeutischen Universität in Nanjing studiert. Trotzdem musste er zunächst den Job annehmen, den ihm der Staat zuwies.
Doch Sun gab nicht auf, sondern suchte einen Weg, trotz dieses schweren Erbes an der Forschung dranzubleiben. 1995 wagte er zusammen mit einem befreundeten Kollegen den Schritt und gründete ein kleines Joint Venture zur Produktion von Antibiotika-Generika.
Während Zhong ihr unspektakuläres Leben als Lehrerin weiterführte, arbeitete ihr Mann faktisch in zwei Jobs. Tagsüber kämpfte Sun als Direktor um das Überleben der staatlichen Fabrik, nebenbei versuchte er in seiner eigenen kleinen Bude, seine Ideen als Forscher und Unternehmer freier zu testen – auch, um sich einen Plan B aufzubauen, falls die Reform des Staatsbetriebs scheitern sollte. Irgendwann wurde klar, dass er zwei so herausfordernde Aufgaben auf Dauer nicht gleichzeitig stemmen konnte, und er bat seine Frau um Unterstützung.
Für Zhong Huijuan war das sicher keine leichte Entscheidung. Als Lehrerin hatte sie in China nicht nur einen angesehenen gesellschaftlichen Status, sondern auch eine sichere Stelle – in China sprach man von der „eisernen Reisschüssel“, so nennt man die krisensichere Anstellung im öffentlichen Dienst. Gleichzeitig waren die Entlassungswellen in vielen Staatsbetrieben der 1990er-Jahre bereits sichtbar. Aber aus Liebe zu ihrem Mann und im Vertrauen auf seine fachliche Stärke zerschlug sie ihre „eiserne Reisschüssel“ und stieg in das junge, winzige Pharmaunternehmen ein.
Die Umstellung war enorm. Die 35-jährige Zhong Huijuan hatte praktisch keine Erfahrung in einem Unternehmen – ganz zu schweigen von einem Pharmaunternehmen, das ungleich komplexer ist als etwa eine T-Shirt- oder Schuhfabrik. Aber sie ist entschlossen und lernfähig. Ihre Chemieausbildung half ihr, in die Welt der Pharmazeutika hineinzufinden und mit den Fachleuten im Labor auf Augenhöhe zu sprechen. In einem Bericht des Wirtschaftsportals Jiemian wurde erzählt, dass sie häufig im Betrieb übernachtete, um hartnäckige Probleme zu lösen; dass sie stundenlang vor Krankenhäusern wartete, um mit den zuständigen Ärzten über ihre Produkte zu sprechen.
Nach fast zwei Jahren Lernen im laufenden Betrieb brachte die kleine, völlig unbekannte Firma Haosen Pharmaceutical ihr erstes und einziges Produkt auf den Markt: ein Cephalosporin-Antibiotikum als Generikum, mit dem sie allein im ersten Jahr 30 Millionen Yuan Umsatz erzielte. Es war eine Zeit, in der jemand mit 10.000 Yuan Vermögen schon als reich galt.
Von da an florierte das Geschäft. 2003 tauchte Haosen bereits auf der Liste der Top-100-Pharmaunternehmen Chinas auf. Im selben Jahr erhielt Haosen ein FDA-Zertifikat für die Herstellung von Wirkstoffen – und profitierte früh vom lukrativen Markt in den USA und Europa als Zulieferer für westliche Pharmakonzerne.
Parallel dazu gelang es ihrem Mann, die staatliche Lianyungang Pharmaceutical Factory in Hengrui Pharmaceuticals zu verwandeln und erfolgreich zu privatisieren. Hengrui lag viele Jahre vor Haosen. Seit dem Börsengang von Hengrui im Jahr 2000 wurde Sun Piaoyang wegen seiner Rolle in Forschung und Unternehmensführung in China als „Pharmakönig“ gefeiert.
Doch beide lehnten sich nicht einfach zurück. Während der Milliardär Sun an der renommierten Nanjing-Universität neben der Leitung eines großen börsennotierten Unternehmens noch für seine Doktorarbeit forschte, besuchte Zhong an derselben Universität am Wochenende ein berufsbegleitendes MBA-Programm.
Aufgrund dieser engen Verbindung stand Zhong mit ihrem Unternehmen Haosen lange im Schatten ihres Mannes und von Hengrui. Wie die Gespräche am Esstisch tatsächlich verliefen, darüber gibt es in der Öffentlichkeit keine verlässlichen Hinweise. Immer wieder kursierten Gerüchte, Sun habe den Plan gehabt, Haosen irgendwann in das wachsende Hengrui-Imperium zu integrieren. Doch 2019 brachte Zhong Huijuan Haosen Pharmaceutical an die Hongkonger Börse – unter dem heutigen Namen Hansoh. Damit bewies sie nicht nur die Eigenständigkeit ihres Unternehmens, sondern auch ihre eigene Position als Chefin eines milliardenschweren Pharmakonzerns.
Zhongs Aufstieg zur reichsten Frau Chinas rückt eine Branche ins Rampenlicht, die bisher vor allem Insidern ein Begriff war: die Biomedizin und die sogenannten innovativen Arzneimittel. Viele Chinesen waren positiv überrascht, wie weit die heimische Pharmaindustrie inzwischen gekommen ist. Denn über Jahrzehnte war es üblich: Wer schwer krank ist – vor allem bei Krebs – versucht, um jeden Preis an jǐnkǒu yào heranzuzkommen, importierte Medikamente aus Europa oder den USA. Man vertraute den ausländischen Originalpräparaten mehr als den heimischen Wirkstoffen, auch wenn die importierten Medikamente oft dutzend- oder hundertfach teurer waren und sind. Das lag einerseits an den hohen Forschungskosten in den reichen Ländern, andererseits an den Geschäftsmodellen der großen Pharmakonzerne, die in der üblichen 20-jährigen Patentlaufzeit nicht nur ihre Kosten decken, sondern möglichst auch hohe Gewinne einfahren wollten. In der chinesischen Pharmabranche spricht man gern von einer „Drei-Zehner-Regel“: zehn Jahre Entwicklungszeit, rund eine Milliarde US-Dollar Investition und am Ende weniger als zehn Prozent Erfolgsquote.
Für die meisten chinesischen Pharmaunternehmen blieb deshalb lange Zeit nur die Rolle des Kopierers: Sie produzierten sogenannte Generika – wirkstoffgleiche Nachahmerprodukte von Originalmedikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist. China hat heute über 5000 Pharmahersteller; der weitaus größte Teil davon verdient sein Geld mit Generika. Schätzungen zufolge sind mehr als 90 Prozent der in China zugelassenen Arzneimittel generisch.
Das Geschäft mit Generika ist an sich lukrativ und relativ risikoarm. Doch genau weil die Einstiegshürden vergleichsweise niedrig sind, herrscht ein gnadenloser Preiswettbewerb – und die Qualität und Wirksamkeit der Produkte schwankt zum Teil deutlich. Seit die Regierung über zentrale Ausschreibungen große Volumina für öffentliche Krankenhäuser einkauft, haben sich diese Probleme eher noch verschärft. Für die Firmen bedeutet das schrumpfende Margen, für Patienten entstehen Risiken: schwankende Wirksamkeit, teils nur geringe Heilungschancen und in manchen Fällen stärkere Nebenwirkungen.
Mit einem forschungsgetriebenen Ehemann wie Sun Piaoyang an ihrer Seite verfolgte Hansoh von Anfang an eine klare Strategie: zuerst mit Generika Geld verdienen, Expertise aufbauen, Talente einsammeln – und gleichzeitig so viel wie möglich in eigene innovative Forschung investieren. Schritt für Schritt stieg Hansoh so von einer provinziellen Generika-Bude zu einem wichtigen globalen Spieler unter den Herstellern innovativer Arzneimittel auf. Seit das erste innovative Antimykotikum – ein neuartiger Wirkstoff gegen Pilzinfektionen – im Jahr 2014 erfolgreich auf den Markt gekommen ist, hat Hansoh bereits neun innovative Medikamente eingeführt. Der Umsatzanteil dieser innovativen Präparate stieg nach Unternehmensangaben von rund elf Prozent im Jahr 2020 auf über 80 Prozent im laufenden Jahr. Kurz vor der Veröffentlichung des Hurun-Reports schloss Hansoh einen großen Deal ab mit dem Schweizer Pharmariesen Roche über ein neues Antikörper-Wirkstoff-Konjugat in Höhe von bis zu 1,5 Milliarden US-Dollar.
Der Aufstieg von Hansoh ist fast exemplarisch für die Biomedizinbranche Chinas. Lange Zeit war das Land die größte Generika-Werkbank der Welt. Sie produzierten Generika, lieferten Wirkstoffe und führten für westliche Unternehmen klinische Studien durch. Im Jahr 2011 wurden innovative Arzneimittel im zwölften Fünfjahresplan (2011–2015) zum ersten Mal ausdrücklich als zentrale Entwicklungsrichtung der Pharmaindustrie genannt. Seitdem ist China auf Aufholjagd im Bereich Biomedizin. Neben Generika-Veteranen wie Hengrui oder Hansoh sind Hunderte neue Firmen entstanden, die sich fast ausschließlich auf innovative Wirkstoffe konzentrieren – wie BeOne Medicine oder Akeso Bio.
Vor dem Hintergrund auslaufender Patente für ihre eigenen Präparate richten deshalb westliche Pharmariesen wie Novartis, Sanofi, GSK und AstraZeneca ihren Blick verstärkt auf chinesische Unternehmen für innovative Arzneimittel und investieren enorme Summen, um sich die Lizenzrechte für potenzielle neue Medikamente außerhalb Chinas zu sichern. Seit Jahresbeginn haben China-bezogene Deals mit innovativen Arzneimitteln bereits einen Anteil von 38 Prozent am globalen Gesamtvolumen erreicht – Tendenz weiter steigend.
Das britische Magazin The Economist hat kürzlich prognostiziert, dass Chinas Biomedizin die Weltmärkte ähnlich aufrollen könnte wie zuvor die grünen Technologien. Für Patienten weltweit wäre das eine gute Nachricht: Wenn China zum „biomedizinischen Reich der Mitte“ wird, könnte ein großer Teil der Welt besser und günstiger mit lebenswichtigen Arzneimitteln versorgt werden. Zugleich kündigt sich damit aber auch eine gewaltige Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse zwischen China und dem Westen an – eine, auf die Politik und Gesellschaft erst noch Antworten finden müssen.
*Nan Haifen ist in China aufgewachsen und kam Anfang der 2000er-Jahre als Studentin nach Deutschland. Aus einem Studienaufenthalt wurde ein Leben zwischen zwei Welten. Seit rund 15 Jahren arbeitet sie an der Schnittstelle von Forschung und Beratung – mit dem Ziel, Kooperationen zwischen sehr unterschiedlichen Akteuren zu ermöglichen, häufig auch im internationalen Kontext. China Abseits ist ihr Versuch, Beobachtungen und Reflexionen mit China-Interessierten zu teilen. Der Titel ist Programm: Abseits der Schlagzeilen. Sie wählt bewusst Themen, die in der deutschen Debatte leicht übersehen werden und doch viel über die chinesische Gesellschaft und ihre innere Logik verraten – seien es regionale Entwicklungen, leise gesellschaftliche Verschiebungen, unternehmerische Dynamik oder kleine Szenen aus dem Alltag. Wer sie ernst nimmt, versteht China besser – und findet eher zu klügeren Formen des Umgangs miteinander. Nan Haifen lebt mit ihrer Familie in Hamburg.