In Japans Hauptstadt Tokio findet gerade eine Entwicklung statt, die international noch wenig Beachtung gefunden hat: Dort entsteht eine kleine, aber wachsende Diaspora chinesischer Auswanderer. Darüber hat der Journalist Takehiro Masutomo soeben ein Buch geschrieben. Es ist bislang nur in Japanisch und traditionellem Chinesisch erschienen. Es trägt den übersetzten Titel „Run Ri – Following the Footsteps of Elite Chinese Escape to Japan.” Masutomo kennt beide Welten: Der Japaner arbeitete für das Medienimperium Nikkei und war für dieses auch Korrespondent in Beijing. In einem Interview sprach Jordan Schneider (Chinatalk) mit Takehiro Masutomo über dessen Buch. Warum er dieses Buch geschrieben habe, fragte ihn eingangs Schneider. Masutomo antwortet, dass er 2022 viele Freunde aus seiner Beijinger Zeit plötzlich in Tokio wieder getroffen habe, weil sie dorthin umgezogen waren. Auch seien ihm chinesische Buchläden aufgefallen, unter anderem „One Way Street“ in der Ginza, der Haupteinkaufsstraße Tokios. Insgesamt habe er fünf chinesische Buchläden entdeckt, die mehr als nur Bücher verkaufen. Dort würden regelmäßig – fast jedes Wochenende – Veranstaltungen, Vorträge und Diskussionen stattfinden. Diesr Buchläden seien eine „refuge for liberal immigrants“, sagt Masutomo. Damit ist auch schon ein Teil der Frage beantwortet, wer diese neuen Immigranten sind: Politische Dissidenten. Wie viele sind es? Masutomo schätzt sie auf mehrere Hundert. Historisch Bewanderte kommen gleich mit einem Vergleich. Als sich vor über 130 Jahren die Qing-Dynastie ihrem Ende zuneigte, hielten sich viele revolutionäre Intellektuelle in Tokio auf. Der berühmteste war sicher Sun Yat-sen, der nach Ende des Kaiserreiches zurückkam und die chinesische Republik gründete. Eine kleine Zahl von japanischen Wissenschaftlern und Diplomaten würden – so Masutomo – sich die Frage stellen, ob sich die Geschichte wiederhole, ob unter den chinesischen Intellektuellen ein zweiter Sun Yat-sen sei. Schneider hakte nach und fragte: Wer könnte das sein? Masutomo nennt drei Namen: den ehemaligen CCTV-Reporter Wang Zhi’an sowie den Juristen Wu Lei, der viele Veranstaltungen initiiere und leite, und Liu Xia, die Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Sie lebt in der Kansai Region, nachdem sie zuvor lange Zeit in Berlin verbracht hat. Neben diesen eher regimekritischen Intellektuellen sind auch viele Mittelklasse-Familien und Superreiche in Tokio gelandet. Bei den Familien spiele die Ausbildung der Kinder eine große Rolle, sagt Masutomo. Die Schulgebühren in internationalen Schulen seien in Tokio geringer als in Shanghai oder Beijing. In diesen internationalen Schulen sei bereits die Hälfte der Kinder aus China. Hinzu kommt noch ein anderer Grund für den Schulwechsel von China nach Japan: „Of course, the competition is not as fierce as in China“, sagt Masutomo. Die Motivation der Reichen ist eine andere: „They are here for the lifestyle“. Sie gehen in die teuren Restaurants, reisen durchs Land und haben Partys in exklusiven privaten Clubs oder Resorts, die nur für Mitglieder zugänglich sind. Wie schaffen die ihr Geld aus China heraus? fragt Jordan Schneider zu Recht, denn offiziell dürfen jährlich nur maximal 50 000 Dollar ausgeführt werden. Masutomo: „They get large amounts of cash through underground banks.”
Viele Chinesen zahlen ihre Immobilien in Tokio in bar. Dies wiederum ärgert viele Japaner, die den Chinesen vorwerfen, die Immobilienpreise in die Höhe zu treiben. Wie sich das aktuelle angespannte Verhältnis zwischen den beiden Ländern auf die chinesische Diaspora auswirkt, konnte Masutomo in seinem Buch nicht mehr berücksichtigen, aber er hat dort erwähnt, dass es bereits einige kritische Berichte in Magazinen und im Fernsehen über die Zunahme der chinesischen Einwanderung im Lande gebe. Überrascht war Masutomo, wie die chinesischen Einwanderer Japan sehen: „I was surprised how optimistic these new Chinese immigrants are about Japan‘s future.“ Während die Japaner eher pessimistisch in die Zukunft blickten, sähen manche der Chinesen Japan am Beginn einer neuen goldenen Ära.
Info:
Hier das Interview in China Talk mit Takehiro Masutomo: https://www.chinatalk.media/p/why-chinese-elite-run-to-japan
Und hier ein Nikkei-Artikel über Chinatowns in Japan: https://nikkei.shorthandstories.com/just-like-in-china-chinatowns-proliferate-across-japan/