WAN HUA ZHEN I Reisenotizen 2025 (1) / Von Liu Zhengrong*

Vor genau einem Jahr reiste Wan Hua Zhen durch die chinesische Grenzprovinz Yunnan, bis in entlegene Dörfer hinein, welche Touristen selten zu sehen bekommen. Ab dem 3. Dezember 2024 entstanden mehrere Reiseberichte, beginnend mit der CHINAHIRN-Ausgabe 95. Das persönliche Fazit am Ende der Serie war: Trotz aller unübersehbaren Ungleichzeitigkeiten und Ungleichmäßigkeiten ist es dem chinesischen Modell gelungen, das Leben breiter Bevölkerungsschichten über mehrere Dekaden deutlich und nachhaltig zu verbessern – auch in zufällig ausgewählten Bergsiedlungen Yunnans. „Allein Yunnan ist größer als Japan oder Vietnam und hat eine multiethnische Bevölkerung von insgesamt 47 Millionen. Kann es dafür überhaupt ein ‘perfektes’ Entwicklungsmodell geben?“ fragte Ihr Kolumnist damals.

Zur gleichen Zeit erschien in der NZZ ein „Gegenbericht“: “Wie schlecht es um Chinas Wirtschaft steht, zeigt sich an der Basis. Eine Reise zur Fabrik der Welt.” Ein NZZ-Autor bereiste die Provinz Guangdong, der Herzkammer der chinesischen Exportmaschine. „Es ist der Beginn einer sozialen Krise“, prophezeite er. Im Januar fragte die ARD – sinnigerweise kurz vor dem DeepSeek-Sturm: „Nur fünf Prozent Wachstum – ist das chinesische Wirtschaftswunder vorbei?“ Der TV-Sender Arte folgte im Frühjahr mit dem Beitrag: „China: die große Krise“.

Mittlerweile befinden wir uns im Dezember 2025. Ohne einer vollständigen Aufzählung zu bedürfen: Die ganze Welt sitzt in multiplen Krisen fest. In Deutschland erleben wir – wieder einmal – das Phänomen des „Elect and Regret“. Es ist ein weiteres verlorenes Jahr geworden – weit mehr versprochen, viel zu wenig geliefert – obwohl ALLE sagen: „das Land hat keine Zeit mehr zu verlieren.“

Auch China steht nicht „über“ der Krise, sondern steckt selbst mittendrin. Relativ gesehen meistert jedoch das chinesische Modell die Krise bislang besser als alle anderen. Wieder einmal. Zu diesem Fazit kam Wan Hua Zhen nach einer kürzlich absolvierten Reise nach Shenzhen, Shanghai und in deren jeweilige Umgebungen – nach zahlreichen Besuchen und Gesprächen im Vorfeld sowie während der Reise. Es macht ihn nicht froh, dass eine solche Festlegung ihm die Kritik einbringen könnte, China durch eine rosarote Brille zu sehen. Es macht ihm aber auch nichts aus. Denn alles liegt schwarz auf weiß vor. China-Interessierte können mit zeitlichem Abstand selbst überprüfen, wessen Analysen der chinesischen Wirklichkeit näherkamen.

Die doppelte Dimension der aktuellen „China-Krise“

Die gegenwärtige “Krise” hat zwei Dimensionen. Im Binnenverhältnis ist sie nicht geringer als die erneute grundlegende Transformation der gesamten Volkswirtschaft – diesmal vor dem Hintergrund des KI-Vormarschs. Dabei sollte man nicht vergessen: Chinas BIP ist heute mehr als 60-mal größer als es 1980 war. Praktisch übersetzt: Jede Veränderung ist mehrfach schwerer und komplexe als die zuvor.

Obwohl über eine Milliarde Menschen seit 45 Jahren für ein historisches Comeback ackern – mit Vision und Pragmatismus, mit Freiheit und Freiheitsentzug, mit Fürsorge und Erbarmungslosigkeit, alles dicht nebeneinander und in enormem, an Stress kaum zu überbietendes Tempo – wirken Chinas Fortschritte und sein Aufstieg bis heute immer wieder „überraschend“ und „erstaunlich“ – besonders für Menschen hierzulande, denen der direkte Einblick ins Land fehlt.

Dass dieser Eindruck hartnäckig besteht, liegt auch daran, dass die „großen Linsen“ des Westens während der gewaltigen Umwälzung fast nur auf die Schattenseiten fokussiert waren. Die realistische Proportion zwischen Licht und Schatten ging dadurch häufig verloren. Das erschwerte ein korrektes und ursachengerechtes Verständnis der Entwicklungen in China – und verhinderte ein frühzeitiges Erkennen der tatsächlichen Leistungsfähigkeit des Landes. Kein Wunder, dass man auf dieser Basis kaum wirksame Mittel, geschweige denn langfristige Strategien fand, um die Chancen durch China zu nutzen und den Herausforderungen zu begegnen.

Die äußere Dimension: Der geopolitische Konflikt

Die äußere Dimension der „Krise“ folgt aus der von den USA vorangetriebenen Eindämmungs- und Einkreisungsstrategie, die vordergründig als „Handelskrieg“ getarnt wurde. Die vielreisenden CHINAHIRN-Leser könnten ein einfaches Experiment machen: Fragen Sie einen Taxifahrer oder Chauffeur – egal ob in Jakarta, Nairobi oder São Paulo –, welche Großmacht seiner Meinung nach die aggressivere sei: China oder die USA? Man bekommt überall in den sogenannten Global South dieselbe Antwort, je nach Kultur mit einem Schmunzeln oder einem lauten Lachen. Hier in Europa kann dagegen vorkommen, dass irgendein China-Experte gleich einwirft, „Sehen Sie, so effektiv und weitreichend ist die chinesische Propaganda.“ Etwa in einem hellen, äußerst stilvollen Konferenzsaal mitten in Berlin im Herbst. Damit wurde jegliche Diskussion obsolet.

Übrigens: Auch in China selbst erlebt man hin und wieder, dass berechtigte Kritik als Propaganda, gestreut von der Gegenseite, abgetan wird. Wenn das Vertrauen sinkt, ist eben alles verdächtig – zwischen Menschen wie zwischen Staaten.

20. November – ein Flug und 35 Jahre Geschichte von der Luft

Am 20. November 2025 nahm Wan Hua Zhen früh morgens einen Flug von Shanghai nach Shenzhen. Diese Strecke flog er erstmals am 2. Oktober 1990, damals, 22-jährig, auf dem Weg über Hongkong nach Deutschland – seine allererste Flugreise überhaupt. Was er damals aus dem Fenster sah, lebt heute nur noch in Erinnerungsfetzen: China war – ein Jahr nach Tian’anmen – grau, flach, unsicher und arm.

Am 20. November 2025 hingegen herrschte nahezu perfekte Fernsicht. Das Flugzeug überflog Ningbo, die Stadt mit dem drittgrößten Containerhafen der Welt; Wenzhou, Synonym für privates Unternehmertum und das alte Exportmodell; Ningde, Heimat des weltweit größten Batterieherstellers CATL; Xiamen, die Perle in der Fujian-Provinz; und eine ganze Reihe weiterer Millionenstädte – Quanzhou (9 Millionen), Fuzhou (8), Zhangzhou (6), Chaozhou (3), Shantou (6), Shanwei (3) – Städte, die in Deutschland kaum jemand kennt. Überall sind riesige Fabriken, überlange Brücken, das dichte Streckennetz der Hochgeschwindigkeitszüge, viele Parks und – vermutlich künstliche – Seen mitten in den Städten zu sehen.

Wan Hua Zhen schilderte seinem Reisebegleiter, einem Thinktank-Gründer aus Shenzhen, seine Gefühle beim erneuten Überfliegen dieser Route nach 35 Jahren. Dieser seufzte: Man könne all das umdeuten in ein negatives Narrativ, die Überkakapzitäten, der Leerstand, die ruinösen Preiskämpfe Umweltprobleme (rotz Verbesserungen) und so weiter. Tatasache sei jedoch, so der Sitznachbar mit unverkennbar Peking-Akzent, im Vergleich zu China nach Tian´anmen sei heute fast alles besser geworden – zum Teil dramatisch, in einem Ausmaß, das weltweit kaum seinesgleichen fände. Vor allem habe sich das Leben von über einer Milliarde „einfacher Menschen“ verbessert. „Das übersteigt die Vorstellungkraft sämtlicher herkömmlicher Lehre im Westen. Der Lehrmeister ist entsetzt. Er will es weder wahrhaben noch akzeptieren.“ Er seufzte erneut. Triumphale Töne klingen anders.   

„Wir erleben aktuell allerdings einen klaren Rücksetzer,“ wendete ich ein. Jetzt lächelte er wieder: „Schau dir die Apple-Aktie an. Diese hat 2025 in der Spitze 25 Prozent verloren. Dramatisch, nicht wahr? Aber frag die Apple-Aktionäre aus den 90ern – sofern sie ihre Aktien behalten haben!“ Die Chinesen sind überwiegend wie die langjährigen Apple-Aktionäre: Sie haben den Kursanstieg über 30 Jahre mitgemacht. Ein Einbruch wie in diesem Jahr tut weh, keine Frage. Aber die meisten vergessen nicht, wo der Kurs Anfang der 90er stand. Die Apple-Aktionäre können jederzeit verkaufen. Die meisten Chinesen wollen und können sich nicht von China trennen. So kraftvoll der Staat auch sein mag, er muss dafür sorgen, dass der Kurs weiter steigt – in einem Land kontinentalen Ausmaßes mit all seiner Ungleichzeitigkeit und Ungleichmäßigkeit. Das ist die riesige Baustelle der Chinesen, und es ist stets ein Rennen gegen die Zeit. 

Und was ist mit uns in Deutschland? “Nothing says that China must own the future. But if the West wants to compete … it must learn the right lessons from China’s rise” (The Economist, 29. November).

Wan Hua Zhen hätte es nicht besser formulieren können.

** Hier erfahren Sie mehr über die Kolumne und deren Autor:

No Comments Yet

Comments are closed