WAN HUA ZHEN I Das falsche Zielbild – ein Kommentar von Liu Zhengrong*

Seit Jahren hören wir die mahnenden Stimmen von Berlin bis Brüssel und wieder zurück:
„Achtung, China torpediert die regelbasierte Weltordnung!“
„Achtung, China macht uns abhängig!“
„Achtung, wir müssen das De-Risking von China vorantreiben!“

Doch wer torpediert nun die Regeln? Von wem sind wir in Deutschland bzw. in Europa weitaus abhängiger? In welcher Außenbeziehung wäre ein De-Risking dringlicher gewesen?

Dieses falsche Zielbild hat leider eine lange Tradition: Vor über 20 Jahren hieß es, Chinas Banken seien marode, die Staatsunternehmen notleidend und der Immobilienmarkt überhitzt, mit möglicherweise schweren Folgen für die Weltwirtschaft. Aber wo brach dann die Subprime-Krise aus? Welche Großbank ging unter, und welche anderen mussten vom Staat gerettet werden? China und die chinesischen Banken waren es nicht.

Vor mehr als zehn Jahren war die gefährliche Staatsverschuldung Chinas das große Thema. Welche Währung geriet dann ins Schlingern und drohte, einen ganzen Wirtschaftsraum mit in den Abgrund zu reißen? Der RMB und die chinesische Wirtschaft waren es nicht.

Nicht falsch verstehen: Die beschriebenen Probleme gab es in China. Und sie sind zum Teil heute noch aktuell. Das große Problem war und ist aber die andauernde falsche Dimensionierung zwischen Chinas Problemen (werden zu groß eingeschätzt) und Chinas Möglichkeiten (werden nicht oder zu klein gesehen), diese zu lösen. Diese Disparität sorgt für eine verzerrte Wahrnehmung und fehlerhafte Schlussfolgerungen. Hinzu kam die verblüffend einseitige Risikobetrachtung: die aufgeblähte „China-Bedrohung“ mit dünnen Faktenlagen stand dem hartnäckigen Ignorieren existenzieller Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten gegenüber, insbesondere im Bereich der Sicherheit und digitalen Wirtschaft.

„Mit einem historischen Unfall namens Trump könnte man doch nicht rechnen. Bis dahin war die westliche Wertegemeinschaft intakt gewesen,“ hörte ich als Erklärung neuerlich in Berlin. Die Ehrlichkeit ist ehrenwert. Nur zur Wahrheit gehört auch, dass schon Trump 1.0 weder ein „Zufall“ noch ein „Unfall“ war. Wo waren die Risiko- und Abhängigkeitsanalysen in Berlin und Brüssel seit 2016?   

Apropos Risikoeinschätzung: Die Trump-Administration verkennt eine „simple“ Tatsache in ihrer Vorbereitung für den Handelskrieg – falls es eine Vorbereitung je gegeben hätte. Die Volksrepublik ist nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika um Welten voraus, wenn es darum geht, die Folgen irrationaler Politik länger zu erdulden. Diese höhere Leidensfähigkeit ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von System, Kultur, sozialen Normen und kollektiven sowie persönlichen Erfahrungen der Chinesen in den vergangenen 75 Jahren.

Jedes Kind in China lernt früh das Wort „chi ku“ (吃苦) – es bedeutet wörtlich: „Bitterkeit essen“. Durchhalten, auch und besonders, wenn es wehtut. „Chi kuist schlichtweg immer schon chinesische Geschichte, Realität und Mentalität gewesen. Ja, wenn es darauf ankommt, auch jetzt noch, und zwar stärker als die Gegenbewegung „flach liegen“ (tang ping).

Dagegen kann weder das MAGA-Volk noch das progressive Lager in den USA mit “chi ku” chinesischer Prägung etwas anfangen. Genau das könnte am Ende den Unterschied machen – in einem „Race to the bottom“ um Strafzöllen, aus dem es nur Verlierer geben wird.

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