Chinas alljährlich größtes Politik-Spektakel, das sich Nationaler Volkskongress nennt, findet bei westlichen Beobachtern selten echtes Interesse. So auch in diesem Jahr. „Weiter wie bisher“, gab die FAZ zum Kongress-Auftakt Anfang März den Ton aus Beijing vor. Ein „Manifest der Kontinuität“ nannte das Handelsblatt den zu Kongressbeginn vorgelegten Regierungsbericht. „Chinas einstudiertes Theaterstück“ sah der Spiegel, als der Pekinger Außenminister auf dem Kongress eine Pressekonferenz gab. Mit anderen Worten: Die Beobachter konnten nichts Neues entdecken. Der Volkskongress 2025: Ein Wiederholungstück wie der Tatort im Sommer?
Doch wer die vielen Texte auf Parteichinesisch, die der Kongress regelmäßig produziert, in diesem Jahr auch nur ein wenig studierte, kam zu anderen Ergebnissen. Denn wenn nicht alles täuscht, war dieser Volkskongress Ausdruck einer wirtschaftspolitischen Wende der KP Chinas: von der Angebots- zur Nachfragepolitik. Vom Vorrang der Investitionsförderung zum Vorrang der Konsumsteigerung, von der Förderung des Exports zur Förderung der Binnennachfrage. Vieles also, was westliche Ökonomen schon immer von Beijing gefordert hatten. Jedoch lässt das Parteichinesisch des Kongresses es nicht zu, eine solche wirtschaftspolitische Wende in Stein zu meißeln. Gleichwohl klang vieles klarer als je zuvor.
Kaum zu glauben, aber schon im dritten Satz des Regierungsberichts von Premierminister Li Qiang, der Nummer zwei der KPCh, endete die Propaganda und ein Halbsatz Wahrheit schlich sich ein: „Im vergangenen Jahr, angesichts der komplexen und schwierigen Entwicklungen, die durch zunehmenden Druck von außen und wachsenden Schwierigkeiten im Inland gekennzeichnet waren, haben wir, das chinesische Volk aller ethnischen Gruppen, die Schwierigkeiten überwunden und unseren Weg unter der starken Führung des Zentralkomitees der KPCh mit Genosse Xi Jinping an der Spitze fortgesetzt.“ Welcher führender KP-Grande hatte vorher von „wachsenden Schwierigkeiten im Inland“ gesprochen?
Wenig später formulierte Li in seinem Regierungsbericht noch deutlicher: „Unsere Erfolge im Jahr 2024 waren nicht einfach zu erreichen. Die negativen Auswirkungen der internationalen Veränderungen nahmen zu, und einige tiefsitzende strukturelle Probleme, die sich im Land seit Jahren aufgestaut hatten, spitzten sich zu. Die schleppende Inlandsnachfrage traf auf schwache Erwartungen in der Öffentlichkeit und andere Probleme, zugleich häuften sich in einigen Teilen Chinas Naturkatastrophen wie Überschwemmungen. All das erschwerte es, die wirtschaftliche und soziale Stabilität aufrecht zu erhalten.“ Hatte sich das Beijinger Politbüro also ernste Sorgen um die Stabilität im Land machen müssen? Zumindest im Westen schien das im vergangenen Jahr niemand bemerkt zu haben. Und doch gibt es in Peking offenbar tatsächlich diese Sorgen.
Denn was der Analyse Lis auf dem Volkskongress folgte, war ein Bekenntnis zu Konsum und Nachfrage, wie es die KPCh auf dieser großen Bühne so klar noch nicht gegeben hatte. Unter den „Hauptaufgaben für 2025“ führte Premier Li prompt an erster Stelle an: „Wir sollten die unzureichende Inlandsnachfrage, insbesondere den unzureichenden Konsum, schneller in den Griff bekommen und die Inlandsnachfrage zum wichtigsten Motor und Anker des Wirtschaftswachstums machen.“ Sagte der Regierungschef des Exportweltmeisters, der im vergangenen Jahr mit einem Handelsüberschuss im Wert von über 900 Milliarden Dollar bislang unvorstellbare Zahlen geschrieben hatte.
Wie passte das zusammen? War es die Kritik aus dem Ausland, die angedrohten US-Zölle, die China jetzt zum Umdenken zwang und auf Konsum statt Export setzen ließ? Darauf gab es beim Volkskongress selbstverständlich keine Antworten. Aber es gab Zahlen, die aufhorchen ließen: Von drei auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts will Beijing in diesem Jahr die öffentliche Neuverschuldung steigern, 1640 Milliarden US-Dollar neue Schulden aufnehmen und damit die Kassen von Lokal- und Provinzregierungen füllen. Nur in diesem Jahr. Wir in Deutschland reden gerade von 1000 Milliarden Euro neuer Schulden für zehn Jahre. Faule Immobilienkredite sollen in China auf diese Weise abgeschrieben und neue Sozialprogramme aufgesetzt werden, damit Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land mehr Zuversicht haben und mehr konsumieren. Ein Riesenprogramm! Auf jeden Fall eine politische Entscheidung mit gravierenden weltwirtschaftlichen Folgen und alles andere als ein Manifest der Kontinuität. Das hatte nach Ende des Volkskongresses am 11. März wohl auch das Handelsblatt bemerkt: „Die Zuversicht kehrt langsam zurück“, kommentierte das Blatt die Ergebnisse des Kongresses. Als wäre dort doch nicht alles weiter wie bisher gegangen.
Info:
Zum Nachlesen der Regierungsbericht 2025:
https://npcobserver.com/wp-content/uploads/2025/03/2025-Government-Work-Report_NON-FINAL_EN.pdf
Zum lohnenden Vergleich der Regierungsbericht 2024:
https://npcobserver.com/wp-content/uploads/2024/03/2024-Government-Work-Report_EN.pdf
Und hier eine Analyse des Regierungsberichts von China Briefing: https://www.china-briefing.com/news/chinas-two-sessions-2025-takeaways-government-work-report/?utm_source=China+Leadership+Monitor+new+issue+alert&utm_campaign=84e370e34e-EMAIL_CAMPAIGN_2019_09_05_04_36_COPY_01&utm_medium=email&utm_term=0_4ca9bcd56f-84e370e34e-73898625
Hier die Pressekonferenz von Außenminister Wang Yi: https://www.fmprc.gov.cn/mfa_eng/wjbzhd/202503/t20250307_11571025.html?utm_source=substack&utm_medium=email