soviel China war noch nie. Das Land kommt nicht aus den deutschen Schlagzeilen. Da war zuerst das geleakte China-Strategie-Papier des Auswärtigen Amtes, es folgten die tagelangen Proteste in diversen chinesischen Städten – und dann stirbt auch noch der ehemalige KP-Chef Jiang Zemin. Am meisten Aufmerksamkeit erregten die Demonstrationen gegen die rigorose Null-Covid-Strategie der chinesischen Führung. Plötzlich tauchten Bilder und Videos auf, die man in diesem Land lange nicht mehr gesehen hatte. Wütende Bürger versammelten sich, schrieen Parolen hinaus oder protestierten stumm mit einem leeren weißen Blatt. Proteste gibt es in China tagtäglich, aber sie sind fast immer lokal begrenzt. Aber diese Bewegung ergriff viele Städte und ging quer durch alle Gesellschaftsschichten. Bei älteren Menschen wie mir tauchten plötzlich Bilder aus dem Jahr 1989 auf, dem Jahr des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Vor allem als ich ein Video von protestierenden Studenten auf dem Campus der Tsinghua Universität in Beijing sah. Wiederholt sich 1989 – im positiven wie negativen Sinne? Ein paar voreilige Beobachter – meist im politischen Raum und in Redaktionsstuben beheimatet – zogen diesen Vergleich. Doch gemach. Das scheint keine Demokratiebewegung zu sein, die einen Regime Change anstrebt, sondern die Protestierenden fordern einen Kurswechsel in der Null-Covid-Strategie, die permanent zu Lockdowns führt und inzwischen die Wirtschaft des Landes und damit auch den Wohlstand massiv schädigt. Auch wenn die Proteste durch die üblichen Repressalien des Sicherheitsapparats abgeebbt sind, können sie jederzeit wieder aufflammen. Sie waren aber eine deutliche Warnung an die Staatsmacht, dass sich die chinesische Bevölkerung nicht alles gefallen lässt. Die ersten angekündigten Lockerungen scheinen darauf hinzudeuten, dass Chinas Führung diese Warnrufe gehört und verstanden hat.
Wolfgang Hirn